Lily Brett - Lola Bensky

Wieder teilt die Autorin ein gutes Stück der eigenen Biographie mit ihrer Hauptfigur. Diesmal ist es die "dicke australische Journalistin" Lola, die für das australische Magazin Rock-Out arbeitet. Sie macht Interviews mit aufsteigenden Stars der internationalen Musikszene, mit quasi allen, die zu Legenden werden, führt sie Gespräche.

 

Der Leser lernt Lola kennen, als sie neunzehn ist, von Melbourne gerade nach London gereist, und dort Jimi Hendrix interviewt. Sie unterhält sich mit ihm über Religion, Kindheit, Familie und Lockenwickler - er ist ausnehmend nett, freundlich, überhaupt keine Diva. Das ist auch Mick Jagger nicht, den sie kurz darauf trifft. Sie besucht ihn in seinem aufgeräumten Apartment, er serviert Tee und sie unterhalten sich über Rebellion.

Sie trifft noch viele weitere Musiker, bewegt sich mit erfrischender Naivität in dieser Männerwelt. Mit Drogen hat sie nichts am Hut, Sex ist nicht ihr Hauptthema, manchmal entwickelt ein Gespräch sich in eine ganz andere Richtung, sie ist auch nicht immer vorbereitet, eines lässt sich aber feststellen: egal, von welchem Punkt aus, Lola kommt früher oder später auf ihre eigene Herkunft und Vergangenheit zu sprechen.

 

Wie Lily Brett ist sie eine Tochter von Überlebenden.

Ihre Eltern haben getrennt voneinander Auschwitz überlebt, sich danach wiedergefunden. Ihre einzige Tochter kommt 1946 in einem Lager für Displaced Persons in der Nähe von München zur Welt. Zwei Jahre später wandert die Familie nach Australien aus, dort wachsen Lily wie Lola heran.

 

Lolas Lebensthema ist ihr Übergewicht. Schon als Baby war sie pummelig und sie fragt sich, wie das sein kann, bei den Umständen ihrer ersten Lebensjahre. Sie wächst zu einem dicken Teenager heran, zu einer dicken jungen Frau. 

Entweder sie plant eine Diät, macht eine oder hat gerade eine abgebrochen, was bedeutet, dass sie die nächste plant.

Dies ist nicht dem allgemeinen Schlankheitswahn geschuldet, der Kern sitzt hier viel tiefer.

 

Ihre Mutter Renia ist eine attraktive Frau, die sich gerne schön macht, Stöckelschuhe und feine Kleider trägt, die sich aber beim Essen mit dem Gesicht zur Wand setzt und ihr Leben lang das Gefühl nicht los wird, Abbitte leisten zu müssen. Abbitte dafür, überlebt zu haben.

Sie ist nie richtig anwesend, lebt weniger mit ihrer Tochter zusammen, als mit ihren ermordeten Eltern, Tanten, Onkels, Geschwistern. Diese füllen ihr Inneres aus.

Mit ihrer Tochter beschäftigt sie sich am intensivsten, wenn sie ihr sagt, sie sei zu groß, zu dick, zu unattraktiv, um einen Mann zu finden. (Deshalb heiratet Lola auch mit dreiundzwanzig einen australischen Ex-Rockstar, den sie nicht wirklich liebt, aber es hätte ja sein können, dass sich nach diesem Mann nie wieder einer für sie interessiert).

 

Wenn Dick-sein die einzige Möglichkeit ist, von der Mutter wahrgenommen zu werden, warum sollte man dann abnehmen?

Die eigentliche Frage aber ist: Warum ist Renia so fixiert auf die Körperfülle ihrer Tochter?

In Auschwitz waren nur die Kapos dick und ein klein bisschen Fleisch auf den Knochen hatte die, die anderen etwas wegnahmen, um selbst zu überleben.

 

Lola hat bald einen guten Namen in der Branche, wäre sie nicht nach Melbourne zurückgekehrt, hätte sie Karriere machen können. Doch sie heiratet, bekommt zwei Kinder, arbeitet bei einem Radiosender. Bis sie "Mr. Someone Else" begegnet, ihrem zweiten Ehemann, mit dem sie dann doch nach New York zieht. Da ist sie zweiundvierzig, ihre Mutter ist gestorben, sie hat schon mehr als eine Psychoanalyse hinter sich, leidet an Panikattacken und diversen Phobien. Sie hat ein ganz typisches Paket von Problemen, die die Kinder von Überlebenden mit sich herumtragen.

Keine Analyse, keine Therapie helfen, die Vergangenheit auszuradieren.

 

Nichts desto trotz arbeitet Lola weiter, schreibt schließlich Romane, die sehr erfolgreich sind. Sie liebt es, wenn sich die verschiedenen Handlungsstränge zusammenfügen, Alarmierendes entschlüsselt wird, wenn kein unaufgeräumter Rest übrig bleibt: ihre Romane können einen Teil des Schreckens aufnehmen, ihre Figuren so agieren, wie sie selbst es nicht kann.

 

Dem Glück gegenüber bleibt Lola immer skeptisch, sie fürchtet hinter allem einen Haken, aber ein Problem hat sie gelöst: sie ist nicht mehr dick. Zwar fühlt sie sich noch so, aber das ist ein anderes Thema...

 

Sie ist zwar nicht Anwältin geworden, wie Renia es sich gewünscht hat, aber sie ist eine erfolgreiche Schriftstellerin und, viel wichtiger: sie hat ihr Leben in die eigenen Hände genommen, es zu ihrem Leben gemacht.

 

Die ersten fünf Kapitel schreiten chronologisch vorwärts, dann wirft sie im sechsten und siebten nochmal einen Blick zurück, um im achten und letzten in der Gegenwart zu enden. 

Sehr viele der von ihr interviewten Musiker sind schon lange tot. Um so mehr freut sich Lola, wenn sie jemanden trifft, der nicht an diesem Leben als Star zerbrach und der noch immer ein freundlicher und aufmerksamer Mensch ist.

Denn dies zeichnet auch Lola aus: Neid auf Schönheit, Erfolg oder Reichtum ist ihr absolut fremd. In all ihren Begegnungen interessiert sie sich immer für den Menschen, der vor ihr steht und nur so ist es möglich, dass ihre Gespräche nie beim Tratsch bleiben, der ihre Leser (auch) interessiert, sondern sie selbst und die Befragten sich öffnen.

 

Wie in allen Romanen von Lily Brett liegen Tragik und Komik sehr nahe beieinander, sie schafft es direkt nebeneinander über falsche Wimpern zu schreiben und darüber nachzudenken, dass sie sich von Leuten angezogen fühlt, die über ihren Kummer reden. "Von Leuten, die sich Sorgen machten. Zu oft gut gelaunt zu sein erschien ihr unnatürlich." Und: "Die Aufzählung all dessen, was nicht stimmte, das war sehr jüdisch. Erkundigte man sich bei einem Juden nach seinem Befinden, resultierte das zwangsläufig in einer Litanei aus Klagen."

 

Diese Klagen hat Brett verwandelt in eine lebendige und sprühende Geschichte, die zum Teil von großen Namen lebt, auch von einer ironischen Nabelschau auf die Generation der Sechziger und Siebziger Jahre, insbesondere aber von ihrer Fähigkeit, scheinbar Unvereinbares zusammenzubringen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Lily Brett: Lola Bensky

Übersetzt von Brigitte Heinrich

Suhrkamp Taschenbuch, 2012, 302 Seiten 

(Originalausgabe 2012)