Lily Brett - Chuzpe
"Alle drei blickten in eine Zeitschrift. "Komm her, Ruthie, Herzchen", sagte Edek. Ruth ging zu ihnen. Ihr Blick folgte ihren Blicken. Es war eine Ausgabe vom New Yorker Magazine.
Auf dem Umschlag waren Edek und Zofia und Walentyna zu sehen.
Sie standen nebeneinander. Edek hatte seinen beigefarbenen Parka an und seine Turnschuhe mit Klettverschluss. Walentyna trug ein viel zu großes Kleid mit einem Muster aus rosapinkfarbenen Rosenknospen. Und Zofia war in Magenta und Gelb gekleidet. Mit stacheligen Haaren und einem Busen, der für sich sprach. Schräg über die obere Hälfte des Umschlags verlief in großen Buchstaben die Schlagzeile: "Die coolste Gang von New York". Ruth war sprachlos. Völlig sprachlos. ... In kleinerer Schrift stand neben dem Foto: Spielberg fliegt zur Hochzeit ein".
Das Ende des Romans sei hier an den Anfang gestellt.
Es ist ein wunderschönes Happy End für Menschen, die viel Schreckliches in ihrem Leben erfahren mussten.
Die Gang, das sind: Edek, siebenundachtzig Jahre alt, vor kurzem von Melbourne nach New York zu seiner Tochter Ruth Rothwax gezogen. Außerdem Zofia, neunundsechzig, aus Zoppot an der polnischen Ostseeküste und ihre Freundin Walentyna, ein klein wenig jünger als Zofia und diese hemmungslos bewundernd, mittels Greencard-Lotterie ebenfalls erst seit ein paar Wochen in New York lebend.
Bei der "coolsten Gang" denkt man eher an junge Rapper, angesagte Galeristen oder Sportler, aber nicht an eine Gruppe von Senioren, die zusammen deutlich über zweihundert Jahre alt sind.
Was ist das Besondere an ihnen? Sie haben ein Klops-Restaurant eröffnet, das sind polnische Fleischbällchen.
In New York gab es das bisher nicht.
Zofia ist eine versierte Köchin, außerdem eine begeisterte Schwimmerin, Trägerin eines unglaublichen Busens (der quasi vor ihr den Raum betritt und sinnbildlich für ihre uferlose Energie steht), eine warmherzige und sehr selbständige Frau, die den Mut hat, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen.
Edek hat die beiden Freundinnen auf einer Reise zusammen mit seiner Tochter Ruth (sie ist Eigentümerin eines gut gehenden Schreibbüros für Briefe, die sie nach Vorgaben der Kunden für diese im richtigen Ton und mit der richtigen Gestaltung verfasst) zwei Jahre zuvor kennen gelernt.
Ruth war die forsche Zofia von Anfang an nicht ganz geheuer.
Ruth ist eine moderne New Yorkerin: geschäftlich erfolgreich, mit ihrem Mann Garth, einem international erfolgreichen Maler, in einem schönen Loft lebend, die drei Kinder sind aus dem Haus, Ruth widmet sich ihrer Arbeit und ihren Befindlichkeiten. Viele Stunden auf der Analytikercouch konnten sie nicht völlig von ihren diversen Neurosen befreien - aber zumindest ist sie sich über diese im Klaren. Sie kann nur bestimmte Dinge essen, bewegt sich nur in einem ziemlich abgezirkelten Teil der großen Stadt, hat ihren persönlichen Trainer, will eine Frauengruppe zur Stärkung der weiblichen Solidarität gründen und ist eine Meisterin im Sich-Sorgen-Machen.
Hauptsorgenkind ist momentan ihr Vater. Als er in New York ankommt, kennt er niemanden, hat nichts zu tun, und möchte ihr im Büro "helfen", sprich: er bringt alles durcheinander. Alle lieben ihn, er spricht ein köstliches Jiddisch durchsetztes Englisch, kauft gerne ein (z.B. Papier für die nächsten hundert Jahre) und ist fasziniert von modernen Haushaltsgeräten. Ruth schlägt ihm vor, sich einem Seniorenlesezirkel anzuschließen, schwimmen zu gehen oder eine nette Frau kennen zu lernen, eine, mit der er Jiddisch sprechen kann, vielleicht sogar aus Polen.
Für all diese Vorschläge hat er nur ein Wort übrig: Schmonzes.
Edek stammt aus Polen. Er, wie auch Ruthies Mutter, ist ein Auschwitz-Überlebender. 1948 wanderte das Paar mit dem zweijährigen Töchterchen nach Australien aus.
Diese Herkunft, sowie die Ehe mit dem Maler, die drei Kinder und der Wohnort New York sind auch die biographischen Daten der Autorin Lily Brett.
Sie ist ebenfalls ein Kind Überlebender und kennt die Schwierigkeiten dieser Nachkommen aus ihrem eigenen Leben: egal, wie groß die eigenen Sorgen und Nöte auch sein mögen, sie reichen nie an die grausamen Erfahrungen der Eltern heran. Das nimmt einem in gewissem Sinne das Recht auf Unglücklich sein, Angst oder Sorgen haben.
Bei Ruth schlägt das Pendel ins andere Extrem aus: sie sorgt sich ständig.
Sie traut Zofia nicht ganz und will nicht wahrhaben, dass ihr Vater und die (in ihren Augen) für ihn viel zu junge Frau ein lebhaftes Sexualleben haben und dass ihm das sehr gut tut.
Sie kann nicht glauben, dass man mit lediglich 30 000$, ohne einzigartiges Konzept und außergewöhnlicher Location, ohne Expertenrat und Werbeagentur ein Restaurant auf die Beine stellen kann, das genug abwirft,
um drei Menschen den Lebensunterhalt zu sichern.
Alle Bedenken von Ruth werden im Verlauf des Romans einfach hinweggespült. Eine Flut an Ideen, Energie und Tatkraft verwandelt ein schäbiges, leerstehendes Ladengeschäft in einer ruhigen Straße in ein Lokal, in dem man Wochen im voraus einen Tisch bestellen muss.
"Klops braucht der Mensch" entwickelt sich zum Magneten weit über die engere Umgebung hinaus.
Edek hat ganz einfach beim New Yorker Magazine angerufen und den zuständigen Redakteur zum Essen eingeladen... Warum eine Agentur engagieren für das, was man selbst tun kann? Zofia braucht auch keinen Küchenspezialisten, sie kocht seit fünfzig Jahren, da weiß man, was wo stehen muss!
Diese Menschen sind einfach unglaublich. Sie gehen zwar mit viel Schwung, aber auch sehr überlegt zur Sache.
Sie wissen, was sie tun und auf Entscheidungen folgen Taten.
Die kluge Zofia, die wie eine Königin in der Küche regiert und hantiert, weiß, dass neben Essen und Liebe auch Mut gehört, will man aus seinem Leben etwas machen.
Der Originaltitel You Gotta Have Balls deutet dies nicht nur indirekt an.
Ruthie sieht u.a. ein, dass sie große Schwierigkeiten hat, die Solidarität unter Frauen, von der sie gerne spricht, zu leben. Doch schließlich gibt sie ihre Widerstände gegen Zofia und Walentyna auf als sie sieht, wie glücklich ihr Vater ist.
Und dann kann sie sich auch ehrlich über die Hochzeit der beiden freuen - die Ankündigung hätte um ein Haar einen Herzstillstand bei ihr ausgelöst. Sie hatte sich ja gewünscht, Edek möge sich etwas mehr Zeit lassen, bevor er sich in eine feste Beziehung begibt.
Zeit lassen, mit siebenundachtzig? Das fand nicht nur Edek absurd.
Die Hochzeit ist ein sehr schönes Ende für eine ironiegeladene, aufmüpfige Geschichte, die alte Menschen als selbstbestimmte, selbstbewusste Könige ihres Handels darstellt. Die frei sind von allerlei (New Yorker) Neurosen und ihr Leben noch einmal ausfüllen mit dem, was sie lieben.
Lily Brett: Chuzpe
Übersetzt von Melanie Walz
Suhrkamp Verlag, 2006, 333 Seiten
(Originalausgabe: 2005)