Matteo B. Bianchi - Von dem, der bleibt
"Ich setzte dieses Buch aus Fragmenten zusammen, weil ich nichts anderes zur Verfügung habe. Vielleicht sollte ich Scherben sagen, um bei der vorhin verwendeten Metapher der untergegangenen Zivilisation zu bleiben. Oder Fund-stücke. Zerbrochene Dinge, jedenfalls. Beim Schreiben verändere ich einige Details. Sortiere um. Verschiebe Ereignisse und Personen in der Zeit. Das habe ich auch in meinen vorigen autobiografischen Büchern gemacht. Mich interessiert die Wahrheit, nicht die exakte Übereinstimmung mit der Realität. Dies hier ist kein Tagebuch."
Der Ich-Erzähler des autobiografisch inspirierten Romans hat vor mehr als zwanzig Jahren seinen Ex-Partner durch Suizid verloren. Lange hat es gedauert, bis er darüber schreiben konnte, dann goss er seinen Schmerz in einen beeindruckenden Roman. In ihm entblättert er seinen Schmerz, aber auch seine Genesung, soweit diese möglich ist.
Er beginnt mit der Ankunft des Krankenwagens, den Sanitätern, die in den fünften Stock rennen, den vielen Menschen, die von den Balkonen aus das Schauspiel betrachten. Und mit der Erkenntnis, dass das Ereignis die Zeit des Erzählers in "ein Vor und ein Nach dem Schmerz" einteilt: "A. liegt da drin, auf dem Boden, tot..."
Es folgt eine Zeit, die aus zwei völlig unterschiedlichen Gefühlen besteht, die absurder Weise gleichzeitig in ihm toben: Lähmung und Raserei.
Warum hat A. es getan? Warum hier in der Wohnung, die bis vor kurzem die gemeinsame war?
"A. und ich waren nicht mehr zusammen, als er sich das Leben nahm. Offiziell waren wir seit drei Monaten getrennt. ... Ich habe ich oft gefragt, was passiert wäre, wenn ich mir diese (seine) Schlüssel zurückgeholt hätte. Wo hätte er es dann getan?" Hätte er es dann überhaupt getan?
Der Erzähler sucht Hilfe bei Freunden, Fremden, Kollegen, Therapeuten und sogar Hellsehern, obwohl er nicht an sie glaubt, glaubte. Er greift nach jedem Strohhalm, würde auch gerne Bücher zum Thema Suizid lesen, auch solche, die sich mit den Überlebenden beschäftigen, den "Davongekomme-nen". Doch es gibt keine Literatur über diese Menschen, die irgendwie weiterleben müssen. Und das, obwohl "Schätzungen zufolge ... auf der Welt alle vierzig Sekunden ein Suizid begangen" wird.
Seine Suche nach der Wahrheit, die nicht mit der exakten Realität übereinstimmen muss, um wahr zu sein, erzählt von einem langen Weg. Von vielen Begegnungen, Gesprächen, Tränen, und auch vom Finden des Mannnes, mit dem er bis heute zusammenlebt. Er berichtet vom Treffen mit A.s Sohn, dem er dabei helfen kann, die Handlung seines Vaters besser zu verstehen. Es ist einer der hellen Momente:
"In dieser Ödnis absurden Schmerzes, die mich umgibt, wo nichts einen Sinn zu haben scheint, konnte ich immerhin etwas Gutes tun: Ich habe einem Sohn seinen Vater wieder-gegeben.
Dieses eine Mal gelingt es mir, stolz auf mich zu sein."
Scheinbar zufällig reihen sich die relativ kurzen Abschnitte, aus denen der Roman besteht, aneinander. Sie wirken wie Puzzleteile, die nach und nach ein Gesamtbild ergeben.
Doch im Rückblick ist der Plan zu erkennen, der hinter dem Roman steht, und in dem nichts dem Zufall überlassen wurde.
Eine Besonderheit des Romans ist ein Fazit am Ende jedes Abschnitts oder jeder Gedankensequenz, das noch einmal ein Licht auf das soeben angesprochene Thema wirft. Diese Überlegungen sind keine Unterbrechung des Leseflusses, aber sie dienen dem kurzen Innehalten. Ohne die Leser:innen direkt anzusprechen, sind sie eine Aufforderung zur Reflexion.
"Ich schreibe dieses Buch unter anderem, weil ich damals so ein Buch hätte lesen wollen, eines über den Schmerz derer, die zurückbleiben. Doch es zu schreiben bedeutet auch, sich neue Fragen zu stellen, andere Vergleiche zu suchen. Ich denke an das Gefühl der Isoliertheit und Einsamkeit, das ich damals empfand, und mir wird bewusst, dass die Heraus-forderung heute nicht die gleiche wäre, dass man nur ins Netz zu gehen braucht, um Hunderte Hinweise auf den verschiedensten Gebieten zu finden."
Doch Hinweise, Erfahrungsberichte, Anleitungen, wie mit der Situation umgegangen werden kann/soll, sind etwas völlig anderes als das durchdachte, durchkomponierte Werk eines Schriftstellers. Der Roman Matteo B. Bianchis füllt nicht nur eine thematische Lücke!
Matteo B. Bianchi: Von dem, der bleibt
Aus dem Italienischen von Amelie Thoma
dtv Hardcover, 2024, 304 Seiten
(Originalausgabe 2023)