Jürgen Bauer - Styx

In der Oper, einem riesigen Garten,

der Welt der Erinnerungen und dem unebenen Gelände eines Neuanfangs spielt dieser Roman in vier Akten.

Sie folgen den Jahreszeiten, die den äußeren Rahmen der Handlung vorge-ben. Im Inneren der Ich-Erzählerin, einer Souffleuse, überlappen sich die Ebenen der Zeit, Ereignisse und Personen schieben sich übereinander. Genau dadurch fangen sie an, sich zu klären.

 

Sie wird Madame Partitur genannt, sie entscheidet, ob sie eine Sopranistin auf der Bühne "sterben lässt", wenn sie ihr den Text nicht einsagt. Dieses ereignet sich am Anfang des Romans, der schichtweise Detail für Detail das Leben der Souffleuse freilegt. Wie ein Gärtner entfernt Jürgen Bauer behutsam die Erde, bis die Wurzeln sichtbar werden, bis die Pflanze an einen anderen Ort versetzt werden und dort ein neues Leben beginnen kann.

 

Nach ihrer Verweigerung, die die Nichtverlängerung ihres Vertrages nach sich ziehen wird und damit als bewusster Bruch mit ihrem Beruf gesehen werden kann, fährt die Erzählerin zu ihrer "Hütte" auf dem Land. Diese ist ein bewohnbares Haus auf einem riesigen Grundstück. Beides empfindet sie nicht als ihr zugehörig, es ist ihr "Nichtzu-hause". Die Hütte ist das Kindheitsrefugium ihres Mannes, das auf ihr Grundstück transloziert wurde, den riesigen Garten samt Teich legte ihr Mann an, um etwas "Bleibendes" zu schaffen. Von seinen Operninszenierungen werden nur Erinnerungen bleiben, sagte er.

 

Ihr bleiben die Erinnerungen an das Leben mit ihm und

die Aufgabe, die Hütte und den Garten zu erhalten, sprich, "das Erbe meines Mannes (zu) bewahren".

Wie soll sie das schaffen?

 

Kurz nach ihrer Ankunft bei der Hütte an jenem Abend, bei der ihr ein Hund zulief, kam und einfach blieb, sie nannte ihn Hans Styx nach einer Figur aus "Orpheus in der Unterwelt", läuft ihr quasi ein Gärtner zu. Ein Mann, der plötzlich da ist, sagt, man habe ihn geschickt, um ihr zu helfen.

Er bleibt Wochen und Monate, erweckt den Garten zu neuem Leben. Schläft in seinem Zelt, doch die beiden kommen sich immer näher. Ihr Vertrauen zu ihm wächst. Sie zeigt ihm sogar die Miniaturbühnen, die ihr Mann schuf, zeigt ihm die Videos, die er von seinen Aufführungen dort drehte. Niemand hat diese bisher gesehen.

 

Es sind die Gespräche mit ihrer Intendantin, die zu einer Vertrauten wird, es ist die Wiederauferstehung des Gartens, es ist Hans Styx, der an den verstorbenen Hund der Erzähler-in und mit ihm verbundene Ereignisse erinnert, und es ist der Gärtner, der stellenweise wie ein Wiedergänger ihres Mannes erscheint, die die "Erinnerungen aufplatzen" lassen. An mehreren Stellen des Romans ist genau diese Formulie-rung zu lesen, sie ist sehr passend, denn häufig gleichen die Erinnerungen aufplatzenden Wunden.

 

Sie reichen zurück in die Kindheit, in der ihre Faszination für die Oper begann. Ihre Mutter war Sängerin, zur völligen Verzweiflung ihrer Tochter starb sie vor ihren Augen auf der Bühne. Als sie sie in der Garderobe in die Arme nahm, war dem Mädchen klar, hier geschehen Wunder.

Sie erinnert sich daran, wie sie und ihr Mann ein Paar wurden, warum sie ihre Stelle als seine Assistentin aufgab und das Reich der Souffleuse wählte.

Sein Zusammenbruch vor ihren Augen auf der Bühne war der Beginn eines Sterbens, das sich über ein Jahr hinzog - hier geschah kein Wunder. Sie pflegte ihn bis zur totalen Erschöpfung, nun erscheint er ihr im Traum, um sie zu beschimpfen. Sie kämpft mit ihren Schuldgefühlen, weil sie zu einem entscheidenden Zeitpunkt eingeschlafen ist. Sie konnte nicht mehr.

 

Irgendwann fragt sie den Gärtner nach seiner Geschichte.

Er erzählt ihr mehrere Varianten, gibt freimütig zu, dass eine jede frei erfunden ist. 

"Warum lügst du mich an?

Die Geschichte könnte die Wahrheit ein, sagt er. Ich kann alles sein, was du dir vorstellst. Alles, was du möchtest.

Er spielt mit seiner Geschichte.

Wie die Intendantin es gesagt hat.

Doch das Spiel tut weh, vielleicht sitzt der Tod zu fest in mir."

 

Wenig später, auf einer Reise nach Aix, wohin die Intendantin sie einlud, denkt sie:

Ich "will endlich ein eigenes Leben über das Leben mit meinem Mann legen, das hier einen seiner Endpunkte fand. Seine letzte Inszenierung, unsere letzte Opernreise."

 

Ein eigenes Leben - bedeutet das, mit der eigenen Geschichte zu spielen, alles sein zu können, was man möchte?

 

Zu ihr sagt die Intendantin:

"Ihre Geschichte kann in verschiedene Richtungen abbiegen, .... So wie jede Geschichte. ... Noch haben sie es in der Hand."

 

Die Intendantin ist eine kluge Frau. Sie zwingt die Erzähler-in, sich der Vergangenheit zu stellen, und sie eröffnet ihr auch eine Zukunftsperspektive. Nicht nur in der Oper bricht sie mit traditionellen Mustern, in denen die Erzählerin lange, zu lange gefangen war. 

Nicht zufällig verschiebt sich während der gemeinsamen Zeit der beiden Frauen in Aix etwas Entscheidendes in der Erzählerin. Danach kann sie eine Entscheidung treffen.

 

Jürgen Bauer spielt mit Gemeinsamkeiten und Unterschie-den, Wirklichkeit und Illusion. Er zieht erstaunliche Linien zwischen Oper (inszeniertes Leben) und Garten (inszenierte Natur), dem Mann der Erzählerin und ihrem Gärtner, der Erzählerin und der Intendantin - der Roman kommt mit diesen vier Rollen aus, keine der Figuren trägt einen Namen.  

Nur der Hund, Hans Styx, fällt aus dem Rahmen.

 

 

Ich möchte den Roman nicht nur gelungen nennen, er ist ein Ereignis!

 

 

 

 

 

 

 

 

Jürgen Bauer: Styx

Septime Verlag, 2024, 192 Seiten