Marco Balzano - Damals, am Meer

Drei Generationen unternehmen zusammen eine Reise: es ist weder eine Bildungs- noch eine Vergnügungsreise - Großvater, Vater und Sohn fahren von Mailand nach Apulien, um die Wohnung der Familie zu verkaufen.

Es ist ein schwieriges Unterfangen.

 

Nicola, der sechsundzwanzigjährige Sohn, wurde in Mailand geboren, für ihn ist das seine Heimatstadt - fast jedenfalls.

Er ist Lehrer ohne feste Anstellung, lebt noch bei seinen Eltern, nicht weil er die Vorzüge des Hotels Mama genießt, sondern weil er sich keine eigene Wohnung leisten kann.

Sein Vater Riccardo war fünfzehn, als seine Eltern im Jahr 1970 das Dorf Barletta verließen, sie sahen dort keine Zukunft für sich und ihre vier Kinder. Riccardo hat Abitur gemacht und ist Chemietechniker geworden, was einen gewaltigen Sprung bedeutet, denn sein Vater Leonardo war (und ist noch) Analphabet.

 

Die gemeinsame Fahrt nach Barletta ist für Leonardo eine Reise in die Heimat, für Riccardo eine an den Ort seiner Kindheit und frühen Jugend, für Nicola (der die Geschichte

in der Ich-Form erzählt) eine Fahrt an seinen langjährigen Ferienort.

 

Die drei Männer stehen sich nicht nah. Für Riccardo ist Nicola ein Versager, weil er noch keine ordentliche Arbeit hat, keine Wohnung und keine Familie. Nie haben sie "richtig" miteinander gesprochen, Abend für Abend steht der Vater auf der Terrasse und schaut mit ernstem Gesicht in die Ferne, was er dabei denkt, behält er für sich.

Loenardo und seine Frau Anna haben nach den eigenen Kindern viele Enkelkinder großgezogen, doch die Familie ist zerfallen, die vier Geschwister haben kaum noch Kontakt zueinander. Sie sehen sich nicht mehr in die Augen.

Nicola hat ein herzlicheres Verhältnis zum Großvater als zum Vater, mit ihm verbindet er die Erinnerungen an seine Kindheit, mit Leonardo und seinen Cousins und Cousinen hat er viel Zeit verbracht.

 

Die Wohnung in Apulien befindet sich in einem ebenso desolaten Zustand wie die Familie. Als die drei Männer dort ankommen, bietet sich ihnen ein Bild des Zerfalls, lange Jahre war niemand mehr dort. Als erstes müssen eine Menge Staub und Taubenkot entfernt werden.

 

Auch die Beziehung der drei wird etwas entstaubt: die Reise gibt Nicola Gelegenheit, sich über seinen Platz Klarheit zu verschaffen.

Der in Mailand lebende und Literatur unterrichtende Autor dürfte in etwa das Alter seines Protagonisten haben, vielleicht reflektiert er seine eigene Geschichte.

 

Nicola fällt auf, dass sein Vater und der Großvater zunehmend Dialekt sprechen, je näher sie Barletta kommen. Er selbst versteht diesen noch, aber er spricht ihn nicht mehr.

"Ich bin der letzte Zeuge dieser Zweisprachigkeit. Mein Sohn wird einen Großvater haben, der ziemlich gutes Italienisch spricht und ihm gegenüber niemals seine ursprüngliche Sprache verwenden wird. ... Mit meiner Geburt und dem Tod der Großeltern beginnt eine neue Geschichte, und die Spuren der vorherigen werden sich bald verlieren, da wir weit weg sind von jenen Orten und jener Sprache und nur noch recht wenig davon begreifen."

Der Großvater sprach reinen Dialekt, der Vater einen halb italienisierten, Nicola ist "der Einzige in der Familie, der nicht mehr zwei Sprachen spricht, der Einzige, der denkt und spricht, ohne zu übersetzten, festgenagelt auf diese rein öffentliche Sprache, die mir gehört wie keinem von ihnen. Ich habe beim Lernen ihre Sprache verlernt, die Sprache,

die alle vor mir immer gesprochen und zu jeder Jahreszeit für gut befunden hatten."

 

Da die Zeit sich nicht aufhalten lässt, knüpft Großmutter Anna ihre Hoffnungen an den Raum, an einen Ort, der wirklich ihrer ist, an den sie zurückkehren kann, wenn die Fremde nicht mehr genug Heimat bietet, um dort zu leben. Sie ist kategorisch gegen einen Verkauf der Wohnung, aber sie kann sich nicht durchsetzen. 

Nicola verlegt den Raum weg vom greifbaren Wohnraum in den Bereich der Sprache. Er kann die Wohnung verkaufen, weil er nicht in der Sprache des alten Familienortes lebt.

Während der Vater in der Stadt "Stücke von sich sucht",

sucht der Großvater "einen untergegangenen Hafen", Nicola hingegen hat nur atmosphärische Erinnerungen, keine konkreten. Er kann nur versuchen, Erinnerungsfetzen der anderen beiden aufzufangen und sie in seine eigene Sprache übersetzten. "Das war das Schönste an dieser Reise, zu übersetzen, um zu verstehen, was noch mir gehört. Was noch meines ist, wenn auch nur als Widerschein."

 

Dass ein Widerschein genügen muss, ist Nicolas Erkenntnis, denn bei einen Bad im Meer erkennt er, wie entwurzelt er sich fühlt, dass er das schon immer war.

Der Verkauf der Wohnung ist für ihn nur das Zeichen an die Außenwelt: Hier kommt etwas zum Abschluss, was vor mehr als dreißig Jahren begann. Vor seiner Geburt.

 

Es gelingt Balzano gut, diese Gedanken in den Gang der Handlung einzuflechten. Es ist kein theorielastiger Roman geworden, in dem "nur" gedacht wird, sondern die überzeugende Geschichte dreier Männer, dreier Generationen und Sprachen, einen Ort zu finden, an dem man leben möchte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marco Balzano: Damals, am Meer

Übersetzt von Maja Pflug

Verlag Antje Kunstmann, 2011, 224 Seiten

Aufbau Taschenbuch, 2013, 224 Seiten

(Originalausgabe 2010)