Solvaj Balle - Über die Berechnung des Rauminhalts I

" ... Der seltsame Moment, in dem der feste Grund verschwindet und man mit einem Mal das Gefühl hat, die ganze Vorhersagbarkeit der Welt könne aufgehoben werden ... In dem man die Unberechenbarkeit der Welt entdeckt, die Gewissheit, dass sich innerhalb eines Augenblicks alles verändern kann, dass das, was nicht geschehen kann, was wir absolut nicht erwarten, trotz allem eine Möglichkeit ist. Nämlich, dass die Zeit anhält. Dass die Schwerkraft außer Kraft gesetzt wird. Dass die Logik der Welt und die Gesetze der Natur zusammenbrechen. Dass wir einsehen müssen, dass unsere Erwartung der Konstanz der Welt auf unsicherem Fundament ruht. Es gibt keine Garantien, und hinter all dem, was wir gewöhnlich als sicher annehmen, liegen unwahrscheinliche Ausnahmen, plötzliche Risse und unvorstellbare Gesetzesbrüche."

 

Von der Unberechenbarkeit, den Rissen, Brüchen, dem Ent-gleiten, dem Denken des Undenkbaren, handelt dieser grandiose Roman. Er ist der erste von sieben Bänden, ein Auftakt, der große Erwartungen weckt.

 

Protagonistin ist die Antiquarin Tara Selter. Mit ihrem Mann Thomas führt sie einen Handel für Bücher aus dem 18. Jahr-hundert. Sie leben im Norden Frankreichs, in einem Häuschen, das Thomas von seinem Großvater geerbt hat.

 

Am Morgen des siebzehnten November fährt Tara zu einer Messe nach Bordeaux. Sie erledigt ihre Geschäfte, fährt abends nach Paris, steigt in ihrem gewohnten Hotel ab. Am folgenden Tag besucht sie diverse Antiquariate, später trifft sie sich mit Freunden. Bei diesem Besuch passiert ihr ein Missgeschick, sie verbrennt sich die Hand an einem Gasofen. 

Davon erzählt sie Thomas am Telefon.

"Es war das letzte Mal, dass ich mit Thomas sprach, bevor die Zeit aus den Fugen geriet."

 

Es ereignet sich das absolut Unwahrscheinliche, Unmögliche: Tara fällt aus der Zeit. Dieser achtzehnte November wird zu einer Zeitfalle für sie, der Tag wird sich ewig wiederholen.

D.h. man weiß es nicht. Dieser erste Band des Romanprojekts umfasst genau 366 Tage. Auf einen weiteren achtzehnten November hofft Tara, hofft, aus der Schleife treten zu können, wenn genau ein Jahr vergangen ist, und die Möglichkeit besteht, dass sie einen neunzehnten erlebt.

 

Die Brandwunde an ihrer Hand ist der Beweis, dass sie wirklich in Paris war, sich tatsächlich mit Philip getroffen hat. Sie ist zurückgekehrt nach Hause, zu Thomas, der sehr erstaunt ist, er hat sie erst am nächsten Tag erwartet, am neunzehnten.

 

Hier setzt eine Bewegung ein, die die Logik nun vollends aushebelt. Während Tara nicht im neunzehnten November ankommt, den achtzehnten in einer Dauerschleife wieder-holt, bleibt der achtzehnte nicht in Thomas´ Gedächtnis haften. Für ihn ist dieser achtzehnte jeden Tag aufs Neue neu. Jeden Tag wundert er sich, dass sie am Morgen neben ihm liegt, jeden Morgen erklärt sie ihm, es sei nichts weiter passiert, kein Unfall, keine Katastrophe, keine Toten usw., lediglich die Zeit ist aus den Fugen geraten.

 

Sie leben ab sofort in zwei verschiedenen Zeiten. Bald auch an verschiedenen Orten, denn Tara verlässt das gemeinsame Schlafzimmer, zieht um ins Gästezimmer. Später verlässt sie das Haus, quartiert sich in einem kleinen Häuschen ein. Zunehmend verbringt sie die Nächte draußen, beobachtet die Sterne.

 

Zu Beginn des Romans verließ sie immer nur kurz das Haus, dann wagte sie sich in den Garten vor, begann, etwas weiter weg einkaufen zu gehen. Nachdem sie sich ein Teleskop gekauft hatte, wendet sie sich dem Himmel zu. Ein weiter Weg, Sinnbild ihrer Entwicklung, ihrer Hinwendung zu kleinen Details. Da ihre Tage in ihrer Grundkonstellation nicht voneinander abweichen, es ist ja immer derselbe Tag, richtet sich ihre Wahrnehmung auf die kleinsten Dinge, so klein, dass man sie ohne optische Geräte nicht sehen kann.

 

"Ich betrachte die Sterne und die Haufen von Wolken, deren Muster ich bereits wiederzuerkennen glaubte. ... Der Himmel hat sein Muster. Es wiederholt sich. Man kann sich zu Hause fühlen."

 

Zunehmend denkt Tara über Muster und Rituale nach.

Sie erkennt, dass sie nur "Gast" war in Thomas Haus und Leben. "Es ist sein Muster, ich gehöre nicht dazu. Unsere gemeinsamen Tage waren ein Einbruch in sein Muster, aber ich breche nicht mehr ein." Sie wünscht sich, er würde ihr heraushelfen aus ihrem achtzehnten November, aber:

"Er war in seinem Muster gefangen, von ihm war keine Hilfe zu erwarten." Und: "Er wollte in seinem Muster bleiben."

 

Sie finden kein verbindendes Muster, keinen gemeinsamen Weg mehr. Thomas zu Hause ist nicht ihres, "ich wohne im achtzehnten November."

Kurz bevor ein Jahr vorbei ist, fährt Tara nach Paris. Sie kommt in eine Stadt und Welt, in der "die Zeit stehen geblieben ist."

Ist nicht ihre Zeit stehen geblieben? Und die der Welt lief weiter?

Die Zeit scheint sich verknäult zu haben, hier muss die gängige Logik passen. So, wie Tara weder weiß, wie sie in diesen Tag hineinkam, noch, wie sie wieder herauskommt, sich fragt, worin der Unterschied besteht, der den einen Tag vom anderen trennt, so laufen in diesem Roman mehrere Strömungen gegen- und umeinander.

 

In ihrer Erkundung des Rauminhalts schreibt Solvej Balle über die Zeit. Der Roman erstreckt sich über den Zeitraum eines Jahres. In diesem Zeitraum werden die Räume, durch die sich ihre Protagonistin bewegt, immer größer, sie verlässt das Zimmer, beschäftigt sich mit dem Weltraum. Für ihren Körper geht die Zeit weiter, ihre Haare wachsen, ihre Wunde heilt. Sie ist bereit, Routinen zu verlassen, im Gegensatz zu Thomas. Er verharrt, und erlebt doch ständig neue Anfänge. Die zeitliche Dissonanz führt zu einer räumlichen und geistigen Distanz. "Thomas war den Gesetzen des Vergessens unterworfen, ich speicherte viel zu viele Tage im Gedächtnis. Thomas war in der Ewigkeit gefangen, und ich bewegte mich langsam, aber sicher auf mein Grab zu."

 

Der Roman ist ein großes Gedankenexperiment. Die fiktive Geschichte ist von der Realität entkoppelt, durch die genaue Beobachtung aber fest mit ihr vertäut. 

Er ist zwischen Unerwartetes und Unerklärliches, zwischen Distanz und Nähe, zwischen Muster und Details gespannt. 

Es gibt keine inneren Monologe, keine Dialoge.

Solvej Balle beschreibt, was ihre Ich-Erzählerin sieht, riecht und hört. Es gibt eine Passage, in der auf einer knappen Seite zwölf Mal das Wort "hören" vorkommt. Es geht um Wahr-nehmung, um das konkrete, körperliche Sein in der Welt.

 

Lebt jeder in seiner eigenen Welt, wenn nicht einmal mehr die Zeit, in der wir doch alle leben, Verbindung herstellt? 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Solvej Balle: Über die Berechnung des Rauminhalts I

Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle

Matthes & Seitz Berlin, 2023, 170 Seiten

(Originalausgabe 2020)