Florian L. Arnold - Ichae, Eine Legende

"... wenn ich von einem Staudamm spreche, von einer Mauer, die das Wasser vom Tal trennt, dann ist das nicht richtig, eine Mauer sich vorzustellen ist nicht richtig, vielmehr mag die Vorstellung einer senkrecht in die Höhe gerichteten Stadt eine bessere, wenn auch immer noch nicht vollständige Vorstellung des Stau-damms erzeugen, vielleicht sollte ich sprechen von einem aberwitzig in die Höhe gezogenen Dom, einer Kathedrale mit vorgelagerten Maschinenhäusern, krönenden Türmen und Antennen und ummantelten Wasserkanälen, ein Venedig des technischen Wahns, steil gegen Fels und Leere sich stemmend, dessen Inneres einer mächtigen geballten Faust aus der Finsternis und ewigem ohrenzerfetzendem Rauschen des in kaum noch vorstellbare Tiefen stürzendem Wasser glich, ..."
Dieser Staudamm, diese Talsperre, Kathedrale, vertikale Stadt, ist der Schauplatz der Geschichte. Erzählt wird sie rückblickend von einem, der an diesem wahnsinnigen Bauwerk mitwirkte. Aus vielen Jahren der Distanz schaut er auf die Arbeiter, die wie Sklaven gehalten werden, auf die Rohheit, den Hunger, die häufigen Unfälle, die Hitze und die schweren Gewaltausbrüche.
Die Legende scheint in ferner Vergangenheit zuspielen, doch der Erzähler hat alles mit eigenen Augen gesehen, nun nimmt er die "schwere Arbeit des Erinnerns" auf.
Er berichtet von Männern, die "ein Leben voller Widrigkeiten und Enttäuschungen hinter sich hatten, Leben, die ihre Seelen so tief gespalten hatten, daß ihnen die gefährliche Fronarbeit am Staudamm erschien wie eine selige Zeit..."
Dabei rückt er vor allem Ichae, den Vogelfänger, und Rìasu, den Ziegelklopfer, in den Mittelpunkt.
Ichae ist schon länger auf der Baustelle beschäftigt, er ist es, der Rìasu ein Messer zusteckt, denn "ich sehe an deinem Gesicht, daß du ebenso kräftig wie arglos bist, du weißt noch nichts davon, wie es hier zugeht, nimm das Messer so lange, bis du ein eigenes hast, ohne Messer bist du hier ein Kandidat für Dabis Kochtopf..."
Ichae wird es sein, der Rìasu nach einem schweren Unfall nicht verloren gibt. Er pflegt ihn, gibt ihn dem Leben zurück.
Den Freund kann er retten, seine Dohle verliert er. Diesen Vogel hatte er als blindes Küken zu sich genommen und aufgezogen, er war sein Begleiter, sein Schatten, bis fremde Jäger ins Tal kamen.
Nach dem Tod des Vogels zieht er sich für Wochen in die Wälder zurück, seine Schweigsamkeit ist danach noch größer als zuvor.
Ichae ist es auch, der einen Fremden mit großem Rucksack auf den Damm zueilen sieht. Aus der Ferne beobachtet er das Geschehen, das in wenigen Augenblicken zerstört, was über Jahre aufgebaut worden war.
Ichae ist eine Figur, der etwas mystisches anhaftet. Er ist "übersensibel und ängstlich und mit wässrigen Kinderaugen", er ist "mager, zerrupft und zeitlos in die Welt geworfen wie die Vögel, die er fing". Er ist weder schlagfertig, noch schlag-kräftig. Manchmal "drückt" ihn "die Seele", weil er Vögel fängt und tötet, dann rettet er einen und pflegt ihn, bis er eines natürlichen Todes stirbt. So ein Mann scheint nicht gemacht für die Härte der Welt, in der er lebt.
Die Legende schwankt zwischen Traum und härtester Realität, zwischen einer unbestimmten Vergangenheit und einer an manchen Stellen ewig anmutenden Gegenwart, zwischen roher, gewalttätiger Männlichkeit und Fürsorge.
Sie lässt die Gedanken in viele Richtungen fliegen, lässt Raum für Assoziationen.
Man kennt die Bilder von Großbaustellen, auf denen die Arbeiter wirken wie Ameisen, man weiß, dass sie unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten und leben.
Hier treffen sich technischer Fortschritt und archaische Arbeitsbedingungen. Das gigantische Bauwerk repräsentiert den Größenwahn der Moderne - doch wie tönern ist es letzten Endes?
Der Name "Ichae" legt eine Spur zu Michael, jenem Erzengel, der im Neuen Testament Satan bezwang und als Heil-kundiger galt. In manchen Glaubensrichtungen wird er als Ebenbild Gottes verehrt, manchen gilt Adam, der erste Mensch, als Verkörperung des Erzengels.
Der Erzähler hofft, "daß Ichae das Unglück überlebte, denn wie anders sollte sich erklären, was ich vor kurzem als Randnotiz in einem Bericht las, daß nämlich das Tal, in dem einst der Staudamm errichtet wurde, heute ein Refugium für seltene Vogelarten geworden ist und Vogelkundler voller Staunen die zahlreichen Farben der Vogelarten in diesem so kargen, ja ausgeleerten und vernabtem Landstrich zählen?..."
Wäre das nicht ein Wunder?
Die Geschichte besteht aus einem einzigen langen Satz, die Worte perlen wie Wasser. Die Abschnitte oder Gedanken-sequenzen sind durch Kommata abgesetzt, ganz am Ende steht ein Punkt. Dieses Fließen der Worte, die, wie Rìasu erkannt hat, "Schlüssel" sind, - "Ein gut gesprochener Satz öffnet mehr Türen als ein Brecheisen" - bewirkt, dass man sich beim Lesen vollständig in das Geschehen hineinbegibt.
Der Kursivdruck wörtlicher Rede setzt die direkten Äußer-ungen der Männer ab von den beschreibenden Passagen des Erzählers, seinen Erinnerungen. Dies ist nicht nur ein Gestaltungselement, damit verquickt der Erzähler die Zeiten.
Der Erzählstil gleicht vom ersten Satz an einem Märchen:
"Zu jenen gehöre ich, die noch die Zeiten kennen, als Sonne reine Freude bedeutete und Wärme, und sich abwechselte mit Regen, sodaß wir leben konnten von dem, was das Land hervorbrachte..." und steht damit in größtem Gegensatz zum Inhalt. Die Illustrationen hingegen vertiefen diesen.
Der Maler und Zeichner Max P. Häring, der "seit über fünfzig Jahren die Licht- und Schattenwelten der Phantasie" erforscht, hat die Illustrationen zu diesem Buch geschaffen.
Die in Schwarz und Weiß gehaltenen Bilder drücken die Kargheit des Landes, des Lebens der Männer perfekt aus.
Sie erzählen von Leere und Einsamkeit, zeigen eine unbewohnbar gewordene Welt. Sie sind sehr fein und flirren wie der Text zwischen Vision und Wirklichkeit.
Mit Text und Bild erschafft das Buch eine eigene, magische Welt. Zwischen Märchen und Hyperrealismus, Gott und Teufel trägt sich die Legende zu, die immer eine erfundene Geschichte um einen wahren Kern kleidet.
Florian L. Arnold: Ichae, Eine Legende
Mit Bildern von Max P. Häring
edition hibana, 2025, 68 Seiten