Lindita Arapi - Albanische Schwestern

"`In den Adern einer Frau fließt das Blut einer Kümmerin.´ Die Worte ihres Vaters. `Denn die Frau wird zum Bedie-nen geboren, was ihr auch gut steht.

Die Anmut einer Frau in der Küche ist unwiderstehlich´, sagte er. Egal, wie sehr man durch Bildung versucht, seiner Herkunft zu entkommen, irgendwann holt sie jeden ein und erinnert daran, woher man  kommt."  

 

Die Geschichte Albas und ihrer älteren Schwester Pranvera erzählt von Herkunft, dem Versuch, in der Fremde eine Heimat zu finden, von den Schwierigkeiten einer Ehe und den Anstrengungen, mit den eigenen Ängsten zu fertig zu werden.

 

Die Albanerin Alba ist Ende dreißig. Durch ein Stipendium kam sie nach Wien, dort lernte sie Thomas kennen, seit vielen Jahren sind die beiden verheiratet. Er geht seiner Arbeit als Informatiker nach, sie ist Sozialarbeiterin bei der Ausländerbehörde. Sie gilt als gelungenes Beispiel der Integration, nur sie selbst weiß, wie kräfteraubend der tägliche Kampf um Anerkennung ist. Mehr als eine Maske ist nötig, um den Anforderungen der Gesellschaft gerecht zu werden.

"Niemand wußte, daß sie für das Arbeitsleben mit Mühe verschiedene Masken hatte herstellen müssen, als Kopien ihrer selbst, für da draußen zurechtgemachte Albas ..."

 

Entspannung und Halt bieten ihr nur die Telefonate mit ihrer Schwester Pranvera, die in Tirana lebt. 

Auch Pranvera hat es weit gebracht. Sie ist Direktorin des Instituts für Lebensmittelsicherheit, ist verheiratet und Mutter zweier Kinder.

Obwohl Pranvera immer die Rebellische war, die Starke und Freie, die Schöne, an der sich die acht Jahre jüngere Alba orientierte, hat sie letzten Endes doch den erwarteten Weg gewählt.

 

Pranvera hat die Schläge und jenen entsetzlichen Tag im Juni 1987 vergessen, womöglich verziehen, tut sie später als normal ab, so waren die Zeiten damals eben.

"`Die Pranvera, die du gekannt hast, Schwesterherz, die habe ich mit meinen eigenen Händen ertränkt´, hatte sie ihr eines Tages gesagt. `Eine Memme verdient es nicht, am Leben zu bleiben.´"

 

Alba konnte die Vergangenheit nicht ertränken. Sie leidet unter Angststörungen. Nach einer Panikattacke im Supermarkt kann sie die Wohnung nicht mehr verlassen.

Ihr Ehemann Thomas hat kein Verständnis für Albas Gefühle, er meint, sie solle sich zusammenreißen.

Er gibt wenig von sich preis. Dass er eine schwere und lieblose Kindheit hatte, erfährt Alba aus einem Tagebuch,

das sie findet und heimlich liest.

Doch dieses Wissen um Leid und Leiden des anderen führt die beiden nicht zueinander. Die Ehe ist am Ende, es muss noch der Schritt gemacht werden, sich dies einzugestehen.

 

In den zehn Kapiteln des Romans verzahnt Lindita Arapi, die 1971 in Albanien geboren wurde und heute in Deutschland lebt, die Gegenwart Albas in Wien mit ihrer Vergangenheit in Albanien. Beide Welten mit ihren unterschiedlichen Ansprüchen und Erwartungen werden beleuchtet, in keiner der beiden fühlt sich Alba zu Hause.

 

Ein Gedanke von Michel de Montaigne spukt Alba durch den Kopf, er fasst ihr Lebensgefühl zusammen:

"Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, daß jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will ..."

 

Auf die Frage, woher sie käme, antwortete Alba einmal mit den Worten: "Aus einem Land ohne Liebe."

Der Liebe stehen die rigiden patriarchalischen Vorstellungen ihres Herkunftslandes entgegen. Sie herrschen über das Leben der Menschen, ebenso die Armut. Die einzige Perspektive bietet die Emigration. Dies führt dazu, dass in den Dörfern unzählige Alte zurückbleiben, um die sich niemand mehr kümmert. Die Ausgewanderten schicken Geld aus dem Ausland, ohne dies wäre kein Überleben möglich, aber ohne eine helfende Hand ist auch kein Leben möglich.

 

Zur Beerdigung ihres Vaters reist Alba zurück in ihr Dorf.

Sie weint und klagt nicht, wie es von einer guten Tochter erwartet wird. Zu präsent sind die Erinnerungen an all die Demütigungen der Kindheit - "Der allmächtige Herr Vater thronte wie ein Gott über dem Kind" -, aber erstaunlicher-weise entwickelt sie ein neues Verhältnis zu ihrer Mutter,

die es auch nie gut mit ihr gemeint hatte. 

Als es dann noch zum endgültigen Bruch mit Thomas kommt, steht Albas Entschluss fest: Sie wird Wien verlassen.

Für Pranvera, für alle im Dorf, grenzt dies an Wahnsinn. Zurück ins Dorf? Ohne Ehemann? Wovon will Alba leben, es gibt keine Arbeit hier? 

Hat ihre Herkunft sie eingeholt? Ist ihr Wunsch nach Rückkehr ein Rückschritt? Wirft sie die Freiheitsideale des Westens über Bord?

Für Alba ist diese Entscheidung eine Befreiung. Sie flieht nicht vor ihrer Geschichte wie Pranvera, sie stellt sich.

 

Das Wort `Angst´ kommt zu Beginn des Romans unzählige Male vor. Es wird weniger, verschwindet.

Am Ende findet Alba eine selbst gestellte Aufgabe, es gelingt ihr, die vielen Fetzen ihrer Persönlichkeit zu einem ihr  passenden Kleid zusammenzufügen. 

Zu Pranvera sagt sie:

"Warum machst du es mir so schwer? Ich schlage einen anderen Weg ein und beginne ein neues Leben, eins, das mir nicht von anderen aufgedrängt wurde."

 

Die gekonnte Einbettung der persönlichen Geschichten Albas und Pranveras, auch die ihrer Eltern, in die Traditionen und Entwicklung Albaniens, in das große Thema Migration und die Folgen, die diese für den Einzelnen und die Gesellschaft hat, macht den Roman zu einem weiträumigen Werk.

Lindita Arapi geht den Ängsten Albas auf den Grund, sie thematisiert das Phänomen der Einsamkeit, das keine geografische Heimat hat. Und sie benennt ganz klar die Strukturen, die einer freien Entfaltung der Persönlichkeit entgegenstehen. 

Man liest sich fest an diesem Roman, der ein Stück fernes Europa, das gar nicht so fern ist, in den Fokus rückt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lindita Arapi: Albanische Schwestern

Aus dem Albanischen von Florian Kienzle

 Weidle Verlag, 2023, 240 Seiten

(Originalausgabe 2019)