Erika Apfelbaum - Melas zwanzigstes Jahrhundert
Das Leben und Überleben meiner Mutter
"Melas Leben erzählen. Aber wie?
Als ich alt genug war zu begreifen, bewunderte ich Mela, meine Mutter, für die Art, wie es ihr gelungen war, sich auf der Asche ihres versunkenen Universums ein Leben aufzubauen und dabei kontinuierlich mehr Autonomie und Freiheit zu erringen. Ich kannte nichts oder sehr wenig von ihrer Vergangenheit, nur einige Fetzen ihres Lebens, die sie mir zugestand, wenn sie vom Heimweh gepackt wurde. Es schien ihr müßig, den Blick auf eine verlorene Welt zurückzurichten, die bloß in der Erinnerung fortlebte. ... Ich brauchte Zeit, die Fäden zu finden, sie zusammenzuführen und neu zu knüpfen."
Mela Apfelbaum lebte fast hundert Jahre. Sie kam 1899 in Przemysl, Galizien (damals Österreich-Ungarn, ab 1918 Polen) zur Welt und verstarb 1994 in der Provence. Ihre Eltern "waren Teil der jüdischen Großbourgeoisie", die lange an dem Glauben festhielt, "am Ende eines unumkehrbaren Emanzipationsprozesses angekommen (zu sein), mit dem ihre völlige Gleichstellung endgültig erreicht war."
Erika recherchiert in Archiven, reist nach Polen, trifft zum Glück Menschen, die noch eine Erinnerung an ihre Vorfahren haben und sie liest sehr viel über die untergegangene Welt. So beginnt sie nach und nach den "Kontext" zu begreifen, aus dem ihre Mutter kommt, versteht, wie sie die vielen kleinen Puzzleteile zusammensetzen muss, aus einzelnen Fäden ein Gesamtbild weben kann. Sie geht zurück bis zu den Urgroßeltern, widmet den Eltern Melas breiten Raum. Sie beleuchtet auch die Herkunft ihres Vaters Max, der aus einer anderen sozialen Schicht kommt, sich aber hocharbeitet.
Max Mutter Helena ist es, die ihre Söhne nach der Macht-ergreifung Hitlers zum Verlassen Deutschlands ermahnt.
Im Jahr 1937 verlassen Max und Mela mit ihrer 1934 geborenen Tochter Erika Kassel, wo sie seit einigen Jahren leben, und gehen nach Paris. Mela, die seit einem längeren Aufenthalt in Wien während des Ersten Weltkrieges das Leben in der Großstadt liebt, spricht Französisch, was uner-lässlich ist, um im Bürokratiedschungel Frankreichs bestehen zu können. Max setzt alles daran, wieder ein Unternehmen aufzubauen, schon 1938 kann er eine Bäckerei eröffnen.
Doch bereits ab Anfang 1940 kann die Familie nicht mehr in Paris leben. Sie siedelt über in ein kleines Städtchen in der Bretagne.
Im Mai werden alle drei festgenommen, weil sie Juden sind. Mela und Erika kommen nach acht Tagen wieder frei, es dauert Monate, bis Mela herausfindet, dass ihr Mann Max in Gurs interniert ist, dem berüchtigten Lager an der Grenze zu Spanien.
Mela schafft es einen Passierschein zu bekommen, sie und Erika ziehen in ein Dorf in der Nähe von Pau. Dort erwirkt sie, dass Max temporär das Lager verlassen, und bei seiner Familie leben kann.
Wie sie das alles zustande bringt, lässt sich nicht genau rekonstruieren. Sicher ist, dass Mela, "die sich bis dahin im Alltag kaum jemals die Hände mit Hausarbeit schmutzig gemacht hatte", nun auf Bauernhöfen ihre Dienste anbietet und einen Gemüsegarten bestellt. Und so die Familie ernährt.
Ihre Kraft scheint endlos, ihr Mut und Organisationstalent ebenso. Noch extremer werden diese gefordert, als Max am 26. August 1940 verhaftet, zuerst nach Gurs und von dort aus über Drancy am 4. September nach Auschwitz transportiert wird. Dort wurde er "gleich bei seiner Ankunft vergast", wie Erika viele Jahre später herausfindet.
Ein mutiger Gendarm hatte Mela und Erika aus dem Bus geholt, in dem sie schon saßen und ebenfalls hätten abtrans-portiert werden sollen. Nun müssen sie sich verstecken.
Unterschlupf finden sie bei einer Freundin Melas, die damit ihr eigenes Leben riskiert.
Noch vor Kriegsende kehren sie zurück nach Pau. Erika kann das Gymnasium besuchen, Mela findet dort eine Arbeit.
"Wieder einmal steht Mela vor einer völlig neuen Situation und wieder wird sie angesichts dieser Herausforderung zeigen, wie viel Energie, Tapferkeit und Entschlusskraft in ihr stecken."
Wie schafft man das alles ganz alleine? "Sie hat eine Mission und ist fest entschlossen, diese zu erfüllen." Diese Mission ist ihre Tochter Erika. Sie hat dieses Kind gegen den Rat der Ärzte bekommen, sie ist "vom unerschütterlichen Willen getragen, das Glück ihres Kindes ... zu sichern."
Dies ist ein Teil der Wahrheit, ein anderer ist der, dass sie jahrzehntelang nicht aufhören wird, auf die Rückkehr ihres Mannes zu warten.
Ende der vierziger Jahre ziehen Mela und Erika zurück nach Paris. Mela beginnt, im Kosmetikunternehmen Helena Rubinstein zu arbeiten. Sie fängt ganz unten an und arbeitet sich sehr weit nach oben, macht eine Karriere, die man märchenhaft nennen kann, und die sie niemand anderem zu verdanken hat als "sich selbst".
Erika Apfelbaum hat in ihrem Buch über ihre Mutter weitaus mehr als deren persönliche Lebensgeschichte eingefangen. Sie erzählt die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts aus der Sicht einer Frau. Alle wichtigen historischen Ereignisse werden beleuchtet, die Entwicklung der Gesellschaft, die Stimmung in den diversen Ländern, die Auswirkungen des Krieges und des Holocaust. Die Sozialpsychologin arbeitet die Biografie Melas fundiert und fein in ein facettenreiches Tableau ein, das ein umfassendes Gesamtbild vermittelt.
"Hat sich Mela je mit dem Verlust ihrer Lieben abgefunden? ... Erholt man sich je von der Tatsache, dass man das eigene Überleben und das des Kindes einer Reihe von glücklichen Zufällen und dem guten Willen einiger weniger verdankt?"
Erika weiß, dass ihre Mutter "nichts und niemals" vergessen hat. Mela bedeckte ihre Erinnerungen mit dem Tuch des Schweigens. Ihre Tochter Erika hat mit ihrem Buch eine Kontinuität wieder hergestellt. Mit ihrem Blick in die Vergangenheit konnte sie ihrer eigenen Tochter das geben, was sie selbst lange Zeit nicht hatte: das Wissen, woher sie kommt.
Erika Apfelbaum: Melas zwanzigstes Jahrhundert -
Das Leben und Überleben meiner Mutter
Aus dem Französischen von Veronika Berger
Mit Fotos aus dem Privatbesitz der Autorin und einem Kuchenrezept aus dem Notizheft Mela Apfelbaums
Mandelbaum Verlag, 2023, 144 Seiten
(Originalausgabe 2019)