Kerana Angelova - Sonnenblumen für Maria
"Ja, Maria, ich war nicht vollends verrückt, ich war ein Epileptiker, der Anfälle von Genialität hatte. Und das ist nun wirklich zu viel für einen Menschen. Selbst für einen so starken Menschen wie mich. Vergib mir, was ich getan habe. Wie du siehst, spreche ich von mir in der Vergangenheitsform. Ich war die Liebe, Maria, bin aber meinesgleichen nicht begegnet.
Das bekümmert mich nicht - ich weiß, irgendwo da in der Zukunft wartest du auf mich. Eines Tages werden wir einan-der in deinen Träumen begegnen. Wir werden zusammen den Sonnenuntergängen zusehen, und ich werde dir den allerschönsten Sonnenblumen-Gott malen. "
Vincent Van Gogh (1853-1890), der geniale, in und an seiner Einsamkeit (fast) verrückt gewordene Maler findet nicht nur keinen Ort, an den er gehört, es lebt auch der Mensch, den er liebt, nicht in seiner Zeit. Dieser Mensch ist Maria, Anfang/Mitte zwanzig, Fotoreporterin und Kunststudentin in Sofia. Sie ist Hauptperson des Romans, der die Lebensgeschichte Van Goghs in das Leben der jungen Frau, die die Einsamkeit ebenso kennt wie der Maler, webt.
Maria, wuchs in einem Waisenhaus auf, wohin ihre Groß-mutter sie gegeben hatte. Sie war gehörlos und wollte nicht, dass das Kind in einer solchen Umgebung leben muss.
Als Maria einmal in einem Park von Männern bedroht wird, schleudert sie ihnen entgegen:
"Willst du mir etwa Angst machen ...? Mir? Glaubst du etwa, ich bin zu meinem Vergnügen in ´nem Waisenhaus groß geworden? Zu meiner seelischen Erbauung?"
Einsamkeit ist ein starkes Thema in diesem Roman, in dem sich zu Vincent und Maria noch Stefan gesellt, ein Kollege Marias und ein Mann zu dem schon seit langer Zeit eine unterirdische Verbindung besteht, wie sich später zeigt.
Maria und Stefan werden ein Paar. Beide müssen über ihren Schatten springen, in beiden hallen Explosionen nach, die sie erleben mussten, und die schmerzhafte Wunden und Narben auf der Seele hinterließen.
Stefan saß als Kind in einem Zug, der gesprengt wurde. Tief eingeprägt haben sich ihm die Angst und das Unvermögen, zu verstehen, was geschah.
Wie sich später zeigt, wurde Marias Freundin Nilüfer beschuldigt, dieses Attentat verübt zu haben. Sie war ein kleines Kind, doch die Frau, die diese Anschuldigungen aussprach, nahm eine ethnische Minderheit in Geiselhaft:
"Wie konntet ihr so was tun, wie konntet ihr so viele Menschen töten, ihr Ungeziefer - und unschuldige Kinder noch dazu! Weiß du, was ich jetzt machen werde? Weißt du, was ich jetzt mit dir machen werde, du kleines Miststück?"
`Ihr´, das sind bulgarische Türken, deren Namen Anfang der 1980er Jahre in bulgarische Namen geändert werden sollten und die aus diesem Grund Terroranschläge verübten.
Maria wurde von der Nilüfer angetanen Ungerechtigkeit in ihren Grundfesten erschüttert.
Maria wurde unlängst als Reporterin an den Flughafen gerufen, dort fand ein Attentat statt (2012). Als erste ist sie dort, erlebt das Chaos hautnah mit, erlebt einen Mann, der seine schwangere Frau sucht. Sie ist tot.
Um ihren eigenen Schmerz zu stillen, verlässt Maria das Flughafengelände und geht zu einem nahegelegenen Sonnenblumenfeld.
"Mitten im Feld wütete ein Mann - riss die Sonnenblumen samt Wurzel aus, schwang sie über dem Kopf und schmetterte sie zu Boden. ... (Sie) machte eine Aufnahme von dem Mann, umgeben von den herumliegenden Sonnblumen-stielen mit ihren Wurzelbärten, in denen wie robuste braune Tumore verdorrte Erdklumpen hingen. In stiller Fassungs-losigkeit sah er sie an."
Der Mann im Sonnenblumenfeld wird das Foto ihres Lebens. Sie veröffentlicht es nicht, es ist zu intim, zeigt nicht nur die Seele des Mannes, sondern auch ihre eigene. Es ist die foto-gewordene Qual der Van Goghschen " Zwölf Sonnenblumen in der Vase" ...
Sie hängt einen Abzug neben die "Zwölf Sonnenblumen" Van Goghs. Es ist das Bild, zu dem sie nicht nur eine besondere Liebe empfindet, es scheint ihr Leben zu reflektieren, so wie es das Leben des Malers spiegelt.
Der ganze Roman ist voller Spiegelungen, voller Ereignisse, die verschiedenen Personen, die in verschiedenen Jahrhunderten leben, auf fast die gleiche Art passieren.
Ihm unterliegt ein myzelartiges Geflecht, das die Figuren miteinander über Zeit und Raum hinweg verbindet.
Kerana Angelova verwebt diese in eine einzigartige Geschichte, wobei sie sich kein bisschen um zeitliche Kontinuität kümmert, auch wenn die Lebensgeschichten der drei Figuren für sich genommen chronologisch erzählt werden.
Stefan stellt fest: "Zeit und Zeitlosigkeit. Was sonst: Oh, Augenblick, verweile doch. Das sind stillstehende Augen-blicke. Vor einer Minute ist mir bewusst geworden, dass mich nie das ganze Leben verletzt und getötet oder aufgenommen und gerettet hat, verletzt und gerettet haben mich die Augenblicke, die stillstehen."
Aus diesen Augenblicken ist der Roman kunstvoll gewebt, geschichtet, ineinander gefügt. Er fängt die Momente ein, in denen alles still steht, um sich danach umso intensiver weiter zu drehen.
So steigern sich Van Goghs Gedanken zu Kunst und Farben hin zu Gott:
"Das blendend weiße Licht ist eigentlich Gott, und dieses enthält alle Farben. Also ist in der Palette des Malers nicht mehr und nicht weniger als Gott selbst enthalten."
Er möchte das Geheimnis der Farben ergründen und sein eigenes. Er möchte zu Gott finden. Er sucht die Liebe. Er malt wie ein Besessener, will Licht und Wind darstellen.
All das ist ihm in Marias Augen gelungen. Sie taucht so tief in das Leben und die kompromisslose Malerei Van Goghs ein, dass er zu einem Teil ihrer selbst wird.
Aber jede Art von Genie-Kult ist Kerana Angelova fremd.
Sie stellt Van Gogh als Suchenden, von seinem Bruder Theo Abhängigen, von seinem Talent Gequälten, von seinen Zeitgenossen Unverstandenen dar. Er ist ein einsamer Mensch, dem nur Prostituierte eine Hand reichen, der zwei Mal in diesem Roman als "Lichtbombe" bezeichnet wird. Einmal nennt ihn Mariona so, die Adressatin vieler Briefe Marias, die eine weitere Reflexionsebene in den Roman bringen, das zweite Mal Theo.
Kerana Angelovas Roman ist voll starker, tiefgründiger Sprach-Bilder. Eine wichtige Passage sei hier noch zitiert, sie zeigt den Stil der Autorin und die Dichte ihres Schreibens:
"Die Uhr an der Wand tickt. Eine heitere, sorglose Uhr. Daneben ist die Scheibe vor dem Bild nun beschlagen, und die Spritzen der Sonnenblumen darunter sind noch verknitterter. Seine (Stefans) Mutter und sein Vater sollen dieses Bild als wunderliches Geschenk zu ihrer Hochzeit bekommen haben. ... Der Van-Gogh-Ivan, jener stets lächelnde Mensch aus dem Haus ganz am Ende der nächsten Straße, der die Namen der Verstorbenen in die Grabsteine meißelte, mit einer maroden Druckpresse Todesanzeigen druckte und in seiner Freizeit malte, vor allem Reproduktionen berühmter Maler, er hat es uns geschenkt, bevor er bei einem Unfall ums Leben kam, Stefan. Übrigens haben sie eine seltsame Wirkung auf mich, Junge. Sie nur, was für leibhaftige Sonnenblumen, als litten sie Schmerzen. Hier neben der Uhr gehört das Bild hin. In ihr fließt die Zeit, in ihm waltet starre Zeitlosigkeit. Um des Gleichgewichts willen hängen sie am besten nebeneinander - zog seine Mutter den Mundwinkel hoch..."
Jener "Van-Gogh-Ivan" ist Marias Vater, wie sie bei der Toten-wache ihrer Großmutter von einer alten Frau erfährt.
Dieses Wissen ist ein weiteres Puzzleteil im Gesamtgefüge - und im Verlauf des Romans fügt sich vieles für Maria.
Und auch für Stefan.
Kerana Angelova: Sonnenblumen für Maria
Aus dem Bulgarischen übertragen und herausgegeben von Viktoria Dimitrova Popova
ink-press, 2024, 296 Seiten
(Originalausgabe 2013)
Alle Cover der Bulgarischen Reihe bei ink-press werden von Schweizer Künstler:innen gestaltet.
Das Titelbild der "Sonnenblumen für Maria" stammt von Pipilotti Rist.