Felicitas Andresen - Die Frau mit den 3 Händen
"Jessica kauft ein Seidentuch für ihre Mutter. Ein Seidentuch mit smaragd-grünen Rändern und in der Mitte einem Muster, wie wenn das Licht durch alte Kirchenfenster fällt. Wie die Bilder in ihrem Tausendundeine Nacht-Buch. Jessica kann sich nicht sattsehen an den Farben. Das Tuch kostet hundertfünfundsiebzig Mark. Jessica könnte für ihre Mutter besser einen Tauchsieder oder ein Bügeleisen kaufen, das hat Frau Bodschinski auch. Aber das Tuch flüstert ihr zu, dass es auf sie gewartet hat und ihre Mutter schmücken will, und so kauft Jessica das Tuch. Jessica verdient weiter und kann später auch noch den Tauchsieder und das Bügeleisen kaufen. Aber über nichts hat sich ihre Mutter so gefreut wie über das Tuch aus Tausendundeine Nacht."
Diese Passage findet sich in dem Kapitel "Funkkind" und in ihr steckt viel, was diesen Roman ausmacht.
Jessica ist neun Jahre alt, sie lebt mit ihrer Mutter, einer Schauspielerin, in Stuttgart. Ihren Vater hat Jessica nur kennengelernt, wenn er auf Fronturlaub war. Das waren wenige Tage, denn das Mädchen kam 1939 zur Welt, ihr Vater verbrachte den ganzen Krieg, vom Anfang bis zum Ende, an der Front. Er verstarb kurz nach Kriegsende an den Folgen all dessen, was er in dieser Zeit erleben musste.
Jessica und ihre Mutter leben nun in einer bescheidenen Wohnung, viele Häuser sind im Jahr 1948 noch immer Ruinen. Die Mutter hat keine Festanstellung, sie hangelt sich von Engagement zu Engagement, arbeitet momentan vor allem für den Rundfunk. Dort sind Mutter und Tochter Kolleginnen. Als "Funkkind" spricht Jessica die verschieden-sten Rollen und entwickelt sehr früh ein hohes Verständnis von ihrer Tätigkeit:
"Die Rollen sagen: Gib dir bitte ganz viel Mühe, damit die Kinder zu Hause am Radio mich mit den Ohren sehen können."
Dies ist fast die einzige Verbindung, die sie zu anderen Kindern hat. Sie geht noch nicht in die Schule, sondern wird privat von einer pensionierten Lehrerin unterrichtet. Nach Kriegsende kamen zuerst die älteren Kinder in die Schule, die jüngeren mussten warten. Zu den anderen Mädchen im Ballettunterricht entwickeln sich keine Freundschaften, im Gegenteil. Sie sind eifersüchtig, weil sie meinen, Jessica würde bevorzugt. Und nicht nur das, "sie ist irgendwie zu hochdeutsch." Zwar kann sie Schwäbisch, aber ihre Mutter kommt aus Norddeutschland, wo Jessica jeden Sommer verbringt. Dort hat sie auch vier Freundinnen, die Töchter des Hofverwalters.
Diese phantasiert sie sich herbei, wenn sie Zirkus spielen möchte oder wenn sie Publikum braucht.
Sie ist sehr oft alleine. Aber sie verfügt über eine ausgeprägte Phantasie. So hat sie ein ausgedachtes Haustier, ein Meer-schweinchen namens Tarzan oder ein viel zu großes Fahrrad, auf dem sie sich jedoch, da sie beim Treten stark hin und her schwankt, fühlt, als ritte sie auf einem Kamel. Sie erschafft sich ihre Gefährten und Abenteuer in der Vorstellung.
Da sie sich vollkommen in die Literatur vertiefen kann, verschwindet sie in Welten, von denen andere keine Vorstellung haben - und sie deshalb auch manchmal für verrückt halten.
Dabei ist sie einfach nur selbständig. Sie geht alleine zum Zahnarzt oder ins Funkhaus, sie verjagt mit einem Trick einen zudringlichen Mann, nur beim Sohn der Vermieterin ist sie froh, dass Stefan, ein Kollege der Mutter, ihr hilft. Der Junge ist ihr heimlich in "ihren Garten" gefolgt, jenem Ort, den die Mutter ihr "geschenkt" hat, und an dem sie die Herrin über verschiedene Reiche ihrer Phantasie ist.
Hier hat sie sich auch auf ihre Rolle als Puck vorbereitet.
Dieses Rolle zu spielen ist ein einschneidendes Ereignis in Jessicas jungem Leben. Bisher spielt eine altgediente Schau-spielerin diese Elfe, Hofnarr des Elfenkönigs Oberon aus Shakespeares "Sommernachtstraum." Edith, der bisherige Puck, wehrt sich mit allen Mitteln dagegen, dass plötzlich ein Kind diese wichtige Rolle übernimmt.
Doch Jessica hat so viele eigene Ideen, entwickelt zusammen mit Stefan ihren Auftritt. Sie schwebt auf einer Schaukel ein, landet mit Purzelbäumen, sie spricht "dreckig" - und sie weiß um ihre Verantwortung.
"Sie denkt: Ich muss ein guter Puck sein. Nicht nur für mich, sondern für die alle, die glauben, dass ich das kann. Ich muss gut sein. Und, denkt sie dann noch, auch für die, die glauben, dass ich es nicht kann. Die WOLLEN, dass ich es nicht kann."
Die Proben und all das, was ein Auftritt am Staatstheater mit sich bringt, nehmen viel Raum ein in Jessicas Leben.
Nebenbei bereitet sie sich noch auf die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium vor und muss sich mit dem Gedanken anfreunden, dass Stefan vielleicht mehr als nur ein Kollege Muttis ist.
Das sehr enge Verhältnis zur Mutter ist die Basis, auf der Jessica steht. Nicht ohne Grund gibt sie hundertfünfund-siebzig Mark von ihrem selbst verdienten Geld für ein Seidentuch aus. Die Mutter kann sich ganz und gar auf ihre Tochter verlassen, die lieber mit ihren Büchern und ausgedachten Gefährten lebt, als mit Gleichaltrigen durch die Straßen zu streunen. Die sich gewissenhaft auf ihre Rolle vorbereitet, ihre Aufnahmeprüfung besteht und sich, als plötzlich von einer Minute zur anderen alles anders ist, in ein neues Leben fügt.
Neben der Geschichte einer alleinerziehenden Freiberuflerin im zerstörten Nachkriegsdeutschland mit Aspekten wie dem "Schwarzen Markt", nicht vorhandener Kinderbetreuung oder fehlenden Schulplätzen, entführt Felicitas Andresen, geb. 1939, in die Welt des Theaters, und sie erzählt die Geschichte eines wachen, selbständigen, eigenwilligen, grundehrlichen, phantasievollen und hochsensiblen Kindes, das früh gelernt hat, dass Geschichten oft nicht das erwartete Ende nehmen.
Dieser schmale Roman mit seiner präzisen Sprache gewährt Einblicke in die Seele eines Kindes, das früh erwachsen werden muss, aber trotzdem auch ganz und gar Kind bleibt. Er berührt zutiefst, ohne rührend zu sein, darauf legt es die erfahrene Autorin, die hier auch ihre eigene Biographie spiegelt, nicht an. Sie gibt Jessica eine eigene Stimme, die manchmal altklug klingt und reproduziert, was die Mutter ihr gesagt hat, vor allem, was politische Aussagen betrifft.
Aber dies ist nur ein Teil. Was beispielsweise Witze angeht, da hat sie ihre eigenen Vorlieben.
Ihr "Lieblingswitz" bezieht sich auf einen Cartoon des amerikanischen Malers Charles Addams, in dem eine über-arbeitete Frau zu ihrem Mann, der immer noch mehr von ihr verlangt, sagt: "Can you wait a second, I´ve only got three hands."
Der Gedanke der "Frau mit den 3 Händen" taucht immer wieder auf. Er gilt auch für Mutti: "Deine Mutter ist ja auch so eine Frau mit den drei Händen!", sagt Stefan. Also eine, die sehr viel schafft.
Und die Mutter schafft es trotzdem jenseits des Praktischen und Nützlichen offen zu bleiben für die Schönheit eines Seidentuchs, eines Abends mit Freunden, einer Figur auf der Bühne.
Vielleicht ist das die Essenz des vielfarbigen Romans:
Ohne Kunst und Phantasie kann man es nicht schaffen.
Und: Es gibt mehr als eine Art des Spiels, des Spielens.
Das begreift Jessica während den Vorbereitungen einer Kinderoper an ihrer neuen Schule. In dieser Schule wohnt man sogar, sie liegt in der Nähe des Bodensees und der Strengen Großmutter. Und hier spielt sie mit ihrer Freundin, ihrer ersten Freundin überhaupt, das Ballspiel "Zehnerle". Dafür "bräuchte man eigentlich drei Hände..." Die hat sie.
Felicitas Andresen: Die Frau mit den 3 Händen
8 grad verlag, 2024, 120 Seiten