Adriana Altaras - Titos Brille
"Zum Beispiel die Geschichte von Titos Brille: Kroatien im Krieg 1944, Marshall Titos Brille ist kaputt.
Die Partisanen, angeführt von ihrem Genossen Tito, haben sich in den zerklüfteten Bergen Kroatiens verschanzt, bieten keine Angriffsfläche. Die Ustascha kriegen sie nicht zu fassen. Es sind heikle Momente.
Mein Vater repariert Titos Brille.
Die Partisanen gewinnen den Kampf. Mein Vater wird zum Helden ernannt und bleibt es fortan."
Die Geschichten, die in einer Familie immer und immer wieder erzählt werden, sind das Herz, die Seele, die Schatzkammer einer Familie. Sie werden so oft erzählt,
dass sie die Tendenz haben, den Kindern irgendwann zu den Ohren rauszukommen. Den Kindern wohlgemerkt,
die Erwachsenen können sie gar nicht oft genug hören.
Was ein aufmerksames Kind wie Adriana spätestens als Pubertierende auf den Gedanken bringt, dass diese Geschichten deshalb so oft erzählt werden, damit die Geheimnisse bewahrt werden können. Und die sind mindestens so wichtig für eine Familie wie die Legenden.
Adriana ist vierundvierzig, als sie zur "Vollwaise" wird.
Nicht lange nach dem Tod ihres Vaters, der nicht Optiker sondern Arzt wurde, stirbt auch ihre Mutter.
Als einzigem Kind fällt ihr die Aufgabe zu, die Wohnung der Eltern in Gießen leer zu räumen. Was nach Jahrzehnten,
in denen nichts weggeworfen wurde, keine leichte Sache ist.
Doch der Reihe nach: Adriana wird 1960 in Zagreb geboren. Ihre Eltern sind Juden und glühende Kommunisten.
Sie haben Krieg und Lager überlebt und kämpfen für eine neue Welt. Es kommt jedoch zu einem Zerwürfnis und zu einem Schauprozess gegen Jakob Altaras, Adrianas Vater.
Er verlässt das Land, findet in Zürich eine Arbeit als Arzt.
Adriana wird als Vierjährige von ihrer Tante nach Italien geschmuggelt und lebt drei Jahre bei dieser in Mantua.
Die Mutter kann zuerst nicht ausreisen, da ihr der Pass entzogen wurde. Erst 1967 kommt die Familie in Gießen wieder zusammen. Jakob wird eine Koryphäe auf seinem Fachgebiet, die Mutter Thea eine erfolgreiche Architektin. Adriana verbringt ihre ganze Schulzeit in einem Waldorf-Internat. In den Ferien fährt sie zur Tante nach Mantua, besucht auch dort die Schule und wird wieder zur Italienerin. Die Mutter ist eine gradlinige, fleißige und zielstrebige Frau, die Tante legt Wert auf Äußeres und liebt es, Oper und Ballett zu besuchen. In Italien trägt Adriana Kleidchen und lernt den Katholizismus kennen, in Deutschland trägt sie Hosen und wird mit dem Wirtschaftswunder konfrontiert.
Um es kurz zu machen: Adriana ist ein multikulturelles Ereignis in sich.
Als sie den Nachlass des Vaters sichtet, kommen einige Geliebte zum Vorschein, er war schon immer ein sehr gewinnender Mann. Sie hat eine deutlich ältere Halbschwester aus erster Ehe des Vaters, plötzlich taucht die Frage auf: habe ich noch mehr Geschwister? Diese Frage zieht sich durch und verbindet immer wieder einzelne Teile und die vielen kleinen Geschichten, die in Kreisen und Schleifen durch das Buch wandern und mäandern.
Die gefundenen Papiere führen Adriana zu ihren Großeltern, zu Cousins und Cousinen und immer wieder zu der traurigen Erkenntnis, dass die Familie aus vielen Toten besteht.
Adriana gehört der Second Generation an, sie ist ein Kind Überlebender und die Geschichte der Juden ist tief in ihr verwurzelt. Obwohl die Eltern weder religiös sind, noch groß die Rituale ihrer Religion pflegen, wächst Adriana in dem Bewusstsein auf, dass sie im Exil lebt. Zusammen mit ihren Dibbuks, das sind eine Art Geister der Vergangenheit, die sie besuchen und mit denen sie sich unterhält.
In Thea Altaras´ Nachlass erscheinen die Papiere und Briefwechsel, die ihren Kampf um die Einbürgerung in die BRD dokumentieren. Das war sehr kompliziert, weil sie historisch gesehen eine Deutsche war, als solche jedoch kein Asyl beantragen konnte, auch wenn sie keine Staatsbürgerin war.
So erzählt Adriana mit der Geschichte ihrer Familie ein langes Stück bundesdeutscher und gesamtdeutscher Vergangenheit und räumt auch mit dem Märchen auf, Juden seien eine Religionsgruppe von vielen, es bestünden keine Besonderheiten im Verhältnis Deutsche-Juden mehr.
Der Antisemitismus sitzt sehr sehr tief in der deutschen Gesellschaft. Das sich wandelnde Selbstbild der Deutschen in den letzten Jahren (dargestellt u.a. in Filmen - die Deutschen waren gar nicht so schlecht, es gab viele Gute, die halfen) irritiert Adriana mitunter.
Werden deshalb Filmsequenzen, die zu hart sind für die Zuschauer, herausgeschnitten? So geschehen bei einem Film, in dem Adriana (die "eigentlich" Schauspielerin und Regisseurin ist) eine jüdische Mutter spielt, deren Sohn eine deutsche Frau mitbringt, die von den Eltern des Sohnes hinausgeworfen wird. Der Regisseur begründet das Herausschneiden so:
"Ihr wart prima....ihr wart sehr überzeugend. Eure Szene war stark, sehr authentisch - vielleicht zu authentisch. Es war einfach zu viel. Ich habe befürchtet, ihr würdet zu hart wirken und man würde euch als Juden nicht mehr mögen."
Adriana stellt anlässlich eines Theaterprojektes, das ihr nicht ganz gelingt, fest:
"Der Gral. Ich würde ihn nie finden. Ich dachte an die "Herrenmenschen" und das auserwählte Volk und wusste tief innen: Wir hatten nichts gemeinsam."
Sie schreibt über zum Judentum konvertierte Menschen,
die besonders eifrig sind, denen jedoch der jüdische Witz fehlt, die Chuzpe. Sie beobachtet alte Rabbiner, Synagogenbesucher, sie wird sehr persönlich bei der Schilderung der Bar-Mizwa ihres älteren Sohnes, sie beschreibt Familienzusammenkünfte und wie es sich anfühlt, die teilweise vergoldeten Zähne der verstorbenen Mutter zum Juwelier zu bringen. Sie helfen, die große Feier zu finanzieren.
Sehr tief blicken lässt auch die Schwierigkeit, einen Beerdigungstermin zu finden: hier stehen sich deutsche Wochenenden und Feiertage unvereinbar mit jüdischen Gesetzten, Ritualen und Besonderheiten gegenüber.
Adriana Altaras bringt persönliche Erlebnisse und Gefühle, Einsichten und Zweifel wunderbar unter einen großen Hut mit den Ereignissen der Zeitgeschichte. Mal ganz nüchtern, dann wieder sehr bewegt und durchgehend mit sehr viel Humor (kann man ohne diesen das Exil überstehen?) und sehr guter Beobachtungsgabe.
Die "Geschichte meiner strapaziösen Familie", so der Untertitel, ist auch die Geschichte einer strapazierten Familie. Und die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende.
Adriana hat einen guten Freund, Raffi, auch er ist Jude.
Er ruft an, als sie gerade viele Dokumente durchgesehen hat, um zu fragen, wie es ihr geht:
"Es ist nichts passiert. Brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es ist wirklich nichts Schlimmes passiert. Ich habe gelesen. Ich habe in zwei Tagen 12 Jahre Naziregime, 25 Jahre jugoslawischen Sozialismus und 20 Jahre BRD durchlebt anhand von Unterlagen, Briefen und Dokumenten aus zwei alten hellbraunen Lederkoffern. Mir geht´s gut..."
Die Geschichte, die mit Titos Brille beginnt, endet mit einem Brief ihrer amerikanischen Cousine und einer Spur zurück nach Zagreb: könnte jener Adriano Altaras, der in Zagreb als Arzt praktiziert, ihr Bruder sein?
"Mein Gefühl sagt mir, dass dieser Adriano Altaras mein Bruder ist. Aber so genau will ich das gar nicht wissen. Wenigstens ein Familiengeheimnis möchte ich behalten, denn wer wegwirft, ist ein Faschist."
Adriana Altaras: Titos Brille
Kiepenheuer & Witsch, 2011, 263 Seiten
Fischer Taschenbuch, 2013, 263 Seiten