Rabih Alameddine - Eine überflüssige Frau

Aaliya ist zweiundsiebzig (Jahrgang 1937), sie lebt alleine in ihrer Wohnung in Beirut. Sie war Buchhändlerin und ist Übersetzerin, sie liebt Musik und hasst Menschenansammlungen und hat gerade dummerweise ihre Haare blau gefärbt. Es ist der Anfang eines neuen Jahres, üblicherweise die Tage, in denen sie eine neue Übersetzung beginnt.

 

Der Roman spielt an zwei Tagen, die für Aaliyas Leben außergewöhnlich ereignisreich sind.

 

Normalerweise, also früher, ging sie morgens zur Arbeit in die Buchhandlung. Dort hatte sie nicht viel zu tun, sie konnte stundenlang lesen. Oft wurde sie dort von ihrer Freundin Hannah besucht, die sich in eine Ecke setzte und strickte.

Die Abende verbrachten die beiden Frauen zusammen in Aaliyas Wohnung, Aaliya Hannah vorlesend.

Hannah war der einzige Mensch, der Aaliya wirklich nahestand. Auch sie war ein Leben lang allein stehend (der Mann, den sie heiraten wollte, starb kurz vor der Hochzeit).

 

Aaliya war mit sechzehn verheiratet worden ("Die Heirat ist eine höchst unangenehme Einrichtung für eine Jugendliche."), die Ehe hielt vier Jahre, dann ließ sich ihr Mann scheiden. Was für ein Glück für die junge, kinderlose Frau, gab ihr das doch die Möglichkeit, ein relativ selbständiges Leben zu führen. Sie konnte die eheliche Wohnung behalten, dort lebt sie noch immer.

 

Die Wohnung ist ihr Refugium und sie birgt ein Geheimnis: das der Übersetzungen, die Aaliya seit Jahrzehnten anfertigt. Hat sie einen Roman übersetzt, legt sie die Seiten in einen Karton und verstaut ihn im ehemaligen Dienstmädchen-zimmer. Als dieses voll ist, landen die Kartons im Dienstmädchenbad. Keiner weiß von diesen vielen vielen Kartons und so soll es bleiben.

 

Doch es kommt anders: ein Wasserrohrbruch treibt die "drei Hexen", das sind die drei Frauen, die außer Aaliya in diesem Haus leben, in ihre Wohnung. Zuerst verständlicherweise völlig schockiert über das Wasser und die ungebetenen Gäste, ist Aaliya glücklich über die tatkräftige Hilfe, die sie von ihren Hausgenossinnen erfährt: sie hängen Seiten zum Trocknen auf, sie föhnen und bügeln und versuchen zu retten, was zu retten ist. 

 

Diese Ereignis findet einen Tag, nachdem plötzlich Aaliyas Halbbruder mit ihrer weit über achtzigjährigen Mutter bei ihr auftauchte und die Mutter bei ihr abliefern wollte, statt. Aaliya und ihre Mutter hatten seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr, ein herzliches Verhältnis hatten sie noch nie.

 

"Meine Mutter liebt nur ihre Söhne und macht daraus auch keinen Hehl. Sie behandelt ihre jüngste Tochter wie einen zweitklassigen Menschen, einen Nachkommen des zweiten Geschlechts. Ich, ihre Älteste, tauche kaum in ihrem Bewusstsein auf. Sobald ich aufhörte, mich in ihr Leben zu drängen, vergaß sie mich."

 

Auch hier sind es die Frauen des Hauses, allen voran die resolute Hausbesitzerin Fadia, die ihr aus dieser misslichen Lage helfen: Aaliya kann die Mutter nicht bei sich aufnehmen, will es nicht, Fadia erlaubt es nicht.

Der Bruder nimmt sie unter Protest seiner Frau wieder mit.

 

Dies sind die Ereignisse, die Handlung, wenn man so will, des Romans. Doch  Rabih Alameddine, einer der bekanntesten Autoren des Nahen Ostens, verleiht seiner Heldin eine so herzenswarme, von einer gütigen Ironie geprägten Stimme, die sehr gekonnt erzählt, abschweift, zurückkehrt, sich von neuem auf einen anderen Pfad locken lässt, dass der Leser tief eintauchen kann in ein Leben und in eine Stadt.

 

Aaliya berichtet, wie es zu ihrer Tätigkeit als Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen ins Arabische kam. Sie vertraut dem Leser ihre tiefe Liebe zur Weltliteratur an - viele viele Zitate beweisen ihre Belesenheit, bzw. die ihres Schöpfers, denn die Literatur ist ihr Lebenselixier.

 

"Ich habe mich in die Kunst geschmuggelt, um dem Leben zu entkommen. Ich habe mich in die Literatur verdrückt."

 

Da niemand jemals ihre siebenunddreißig Übersetzungen zu Gesicht bekommen hat, empfindet sie diese Tätigkeit als sinnlos, überflüssig.

"Niemand auf der ganzen Welt ist so überflüssig wie ich. ...

Ich bin diejenige, die keine Arbeit, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz, noch nicht einmal Liebe für sich selbst hat."

Doch da der Wasserschaden ihre Arbeit ans Licht gebracht hat und Joumana, eine der drei Hexen, an der Universität arbeitet, sofort die Idee hat, ihre Studenten zu bitten, sich die Texte einmal anzuschauen, wird vielleicht doch noch etwas daraus, das anderen Menschen nützlich sein kann.

 

Abgesehen davon, kamen die oben zitierten Worte Aaliya

in einem Moment der Schwäche in den Sinn.

Ansonsten reflektiert sie so lebendig über alles, was sie wahrgenommen und erlebt hat, dass niemals der Eindruck entsteht, sie sei ein vertrockneter alter Bücherwurm.

 

Ihre Erzählung, wie sie ihre kurze Ehe und auch schon deren Anbahnung erlebt hat, wie sie Hannah kennengelernte

("Sie war der erste Mensch, der mich in seinem Leben haben wollte, die Erste, die mich auswählte") und verlor, die Beschreibung der Hausbewohnerinnen, und vor allem auch die Schilderungen der Stadt Beirut und wie sie sich über Jahrzehnte hinweg veränderte (nicht zuletzt durch die vielen Kriege) - das ist alles ungemein lebendig und zeugt von einem sehr wachen Geist.

 

Wie eine moderne Scheherazade verwebt sie Geschichte um Geschichte in einen dichten Teppich. Beginnend mit der Literatur und ihren Übersetzungen, kommt sie auf ihr eigenes Leben zu sprechen. Sie schreitet fort, indem sie über die Menschen nachdenkt, mit welchen sie zu tun hatte (ihre Familie, Hannah, die Frauen im Haus) und sie endet ihren Rundgang durch den Garten ihres Lebens wieder bei ihren Texten. Bestimmend für ihr Leben waren nicht nur ihre Begegnungen mit Büchern und Menschen, ganz entscheidend war das Leben in Beirut, das sich in diesem Roman ganz vielseitig zeigt und durchschritten werden kann.

 

Rabih Alameddine, geb. 1959, wuchs in Kuwait, im Libanon und in England auf. Heute lebt er in den USA und in Beirut.

Sein preisgekrönter Roman wurde in viele Sprachen übersetzt, er ist der erste von vieren, der auf Deutsch erschienen ist. Bleibt zu hoffen, dass auch die anderen drei bald nachfolgen werden, denn dieser Autor ist eine so facettenreiche Stimme, von ihm würde man gerne mehr lesen. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rabih Alameddine: Eine überflüssige Frau

Übersetzt von Marion Hertle

Louisoder Verlag, 2016, 470 Seiten

(Originalausgabe 2013)