René Aguigah - James Baldwin, Der Zeuge - Ein Porträt

Dieses Buch "porträtiert James Baldwin, indem es ihn liest", es "liest James Baldwin in seiner Zeit - und stellt ihm Fragen aus der Gegenwart."

Dieses Versprechen, gegeben von René Aguigah in der Einleitung, löst er ein.

Er zeichnet den Lebensweg des großen Autors nach, reflektiert seine Werke vor dem Hintergrund seines Er-Lebens und fragt, was er uns heute noch zu sagen                                                     hat.

 

Das Porträt ist klar strukturiert in drei Teile, in denen René Aguigah jeweils ein Gegensatzpaar beleuchtet: Autor und Aktivist, Fiction und Nonfiction, partikular und universal. 

 

Selbstverständlich erzählt Aguigah das ganze Leben des Schriftstellers, doch zu Beginn springt er direkt in das Jahr 1963, einem "Schlüsseljahr in der Bürgerrechtsbewegung ... ein Schlüsseljahr auch für James Baldwin." Baldwin ist nun achtunddreißig, er veröffentlichte drei Romane und drei Essaybände, ist ein etablierter Autor. In jenem Jahr erschien "The Fire Next Time", eine Essaysammlung. Im Rückblick das wichtigste literarische Manifest der Bewegung. Baldwin ist zu einem Experten in Fragen der race relations geworden, eines der großen Themen seines Werks, in seiner Literatur wie auch in seinen Essays.

 

Die Antwort auf die Frage, wie sich der Autor Baldwin zum Aktivisten Baldwin verhält ist eindeutig: der eine ist ohne den anderen nicht zu denken. 

Aguigah arbeitet anhand vieler Beispiele heraus, dass der "Realitätshunger", die "Suche nach der Wirklichkeit", das "Interesse an den Lebensrealitäten" der Menschen und die "Suche nach Allgemeingültigkeit" dessen, was der Einzelne erlebt, die Grundlage für sein gesamtes Schaffen sind.

Wie es auch die Tatsache, "dass James Baldwin für all seine Texte aus dem Reservoir der eigenen Erfahrung schöpft" ist.

 

"Die Erfindung namens "N***"; eine rassistische Bezeichnung ebenso wie die Abkürzung für ein rassistisches System, verkennt die damit Gemeinten grundsätzlich; das Gefängnis rassistischen Denkens und Handelns schränkt in erster Linie die Rassisten selbst ein, die diese ihre Erfindung reflektieren und aufgeben müssten, um sich zu befreien. Diese Gedankenkette könnte man Baldwins Formel nennen - weil sie, in immer neuen Varianten, in seinem gesamten Werk auftaucht, in frühen und in späten Texten, bei aktivistischen Auftritten ebenso wie in den Essays oder in Romanen."

 

In seinen Romanen verflicht Baldwin die Schicksale Schwarzer und Weißer, er streicht heraus, wie sie in der Trennung ineinander verstrickt sind. Er entwirft seine eigene "Farbenlehre", spricht von "Schattierungen", colorism, die color überwinden können.

Auch in seinem Verhältnis zu Marin Luther King, Malcolm X, zu den Black Muslims oder den Black Panthers bleibt James Baldwin stets differenziert, wie er sich auch sonst keiner Ideologie verschreibt.

 

Bis in einzelne Sätze und Worte hinein spürt René Aguigah dem Denken und dem Sound Baldwins nach, in jedem Teil des Buches fasst er seine Erkenntnisse verständlich und nachvollziehbar zusammen.

Mehrfach reflektiert er auf den perfekt gewählten Titel des Buches: Baldwin war ein Zeuge. "Seit etwa 1963 nennt er sich selbst immer wider einen Zeugen", sein Werk legt "Zeugnis

ab vom Schmerz und der Isolation des Autors, die er, in Literatur verwandelt, mit anderen teilt." 

Mit "seiner Bereitschaft, den Gefahren der eigenen Gegen-wart illusionslos ins Gesicht zu blicken, .... erfüllt Baldwin die Erwartungen an einen Zeugen."

 

Baldwins Vorstellung von Literatur fußt auf dem Gedanken des "lebensechten Menschen". Weder akzeptiert er Zuschreibungen, noch will er Klischees reproduzieren. Widersprüchlichkeiten in einer Person können bestehen bleiben, doch sie muss sich entwickeln. "Baldwin verlangt dichte Beschreibungen der Schwarzen Geselligkeit und Kultur. ... (ihn) interessieren Beweggründe, Veränderungen, widerstreitende Kräfte im Inneren. ... Der Mensch, wie Baldwin ihn sieht, zeichnet sich durch Undefinierbarkeit und Unberechenbarkeit aus, durch Komplexität, Ambivalenz und Paradoxie."

 

Die Voraussetzung, dies darstellen zu können, ist genaues Hinsehen, genaues Zuhören - Zeuge sein.

Sehr genau hat René Auguigah gelesen, Filme angeschaut, Radioaufnahmen angehört. Er ist eingetaucht in den großen Baldwin-Kosmos, hat sich faszinieren lassen, hat aber kein Heldenporträt gezeichnet.

 

Er ist ihm sehr wohlgesonnen, errichtet jedoch kein Denk-mal, eher spricht er die Einladung an die Leser:innen aus, sich eingehend mit diesem Autor zu beschäftigen. Indem er die wesentlichen Züge aus dem umfangreichen Werk heraus-destilliert und sie vor der Biografie Baldwins entfaltet, gibt er den Leser:innen eine profunde Einführung.

 

James Baldwin "will die Geschichten, ... die Geschichte jener Welt, die Menschen ... untergehen und andere, gezeichnet, überleben ließ" erzählen. Nach der Lektüre der Biografie, in der sich die in den drei Teilen des Porträts konstruierten Gegensatzpaare nicht auflösen, sondern ausgehalten und ausgetragen werden, will man dieses spannungsreiche Werke selbst kennenlernen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

René Aguigah: James Baldwin, Der Zeuge - Ein Porträt

C.H. Beck Verlag, 2024, 233 Seiten