Sibylle Berg - Vielen Dank für das Leben
Eine sehr beeindruckende Geschichte ist Sibylle Bergs „Vielen Dank für das Leben“, erschienen 2012 im Hanser Verlag.
Hier wird das Leben eines Menschen beschrieben, der sich ganz alleine durchkämpfen muss. Besser gesagt: ohne Hilfe, denn alleine ist Toto nicht wirklich und wenn er in Kontakt mit anderen Menschen kommt, tun sie ihm nichts Gutes.
Geboren wird Toto Mitte der 60er Jahre in der DDR, die Mutter ist eine Alkoholikerin, die das Kind bald im Heim abgibt. Es ist ihr nicht nur lästig, es ist ihr unheimlich, da es kein eindeutiges Geschlecht hat. Und als das die anderen Kinder herausbekommen, wird ihnen auch klar, warum sie Toto immer abgelehnt oder gehasst hatten. Einmal hat er für kurze Zeit einen Freund, ansonsten ist er alleine, keiner verteidigt ihn bei den häufigen Angriffen, denen er ausgesetzt ist.
Eine der Erzieherinnen findet schließlich eine „Pflegefamilie“ für ihn, doch dort wird er als Stallknecht gehalten, geschlagen, missachtet und gequält.
Und trotz allem bewahrt sich Toto so etwas wie eine kindliche Unschuld, er scheint eine Haut zu haben, an der alles abperlt, er wird nie böse, sieht in seinen Mitmenschen keine Monster, versorgt seine Peiniger manchmal sogar noch.
Von diesem Hof in der trübsten und alkoholgetränkten Provinz kommt er auf sehr merkwürdige Weise in den Westen, dort ergeht es ihm in keinster Weise besser. Er schlägt sich mit obskuren Jobs durch, verliert immer wieder eine Arbeit, die er richtig gut und gerne macht (wie z.B. Altenpfleger), wegen seines nicht vorhandenen Geschlechts – Symbol dafür, dass er sich nicht einordnen lässt - und wegen seiner Art, sich nicht zur Wehr zu setzen. Sein ganzes Erwachsenenleben hindurch bleibt er dieser Tor, der nichts annimmt, aber immer sein Bestes gibt. Egal, in welchem Milieu er gerade lebt, überall regieren Biederkeit und Denkfaulheit.
Sein Leben endet im Jahre 2030 in Paris, wohin er auch wieder zufällig geriet, er ist 64 Jahre alt, krank, allein und völlig verarmt. Die Stadt ist nebenbei bemerkt in einem Zustand, den man nicht kennenlernen und erleben möchte.
Toto ist eine faszinierende Person, (ich schreibe hier immer „er“=der Mensch, obwohl Toto in der Mitte des Buches eine „Umwandlung“ vom Mann zur Frau vornehmen lässt), immer wieder möchte man ihn an der Hand nehmen und ihm einige Dinge erklären. Über die Welt, darüber, was Verhaltensweisen bewirken, welche Folgen Handeln oder Lassen haben können oder wie man sich vielleicht ein bisschen schützen kann vor Bosheit. Dann bemerkt man gleichzeitig genauso oft, dass Toto das alles gar nicht braucht, er weiß alles, macht es aber nicht, weil er es nicht machen will. Weil er vielleicht weiß, dass das alles sowieso nichts nützen würde, er ist nirgendwo integriert und er wird das nie sein. Denn auch wenn er sich nichts zu Schulden hat kommen lassen, die Menschen finden immer einen Grund, ihn zu demütigen und wegzuschieben und auf das Verhalten der anderen hat er keinen Einfluss.
Man fängt an, sich zu wundern über diesen Simpel. Woher nimmt er die Stärke oder Größe, einfach nur zu fragen, warum die Menschen so boshaft sind und nicht zornig zu werden?
Beeindruckend an dem Roman ist auch Sibylle Bergs Fähigkeit, in wenigen Sätzen, weniger als einer Seite, die Besonderheiten einer Zeit, das, was die 80er oder die 90er ausmacht, zu charakterisieren. Und ganz dunkel sieht es aus, wenn sie auf die Jetztzeit oder in die nächste Zukunft blickt.
Diese Verschränkung der Geschichte eines Einzelnen mit der ganz besonderen Zeit, in der er lebt, macht neben der Einzigartigkeit Totos die Faszination des Buches aus, das bis zum Schluss spannend bleibt, auch wenn schon lange klar ist, wohin der Weg führt.
Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben
Hanser Verlag, 2012, 400 Seiten
dtv-Taschenbuch, 2014, 400 Seiten