Paul Auster - Winterjournal
Auster, geboren 1947, steht an der Schwelle zum Alter. So empfindet er selbst seinen Zustand und dies ist für ihn Anlass, sein Leben aufzuschreiben.
Er hat keine gewöhnliche Autobiographie verfasst, das was er hier geschrieben hat, lässt sich vielleicht mit dem Wort "Körper-Biographie" fassen. Denn er blickt auf die vergangenen vierundsechzig Jahre zurück, indem er sich selbst als Menschen aus Fleisch und Blut und nicht als ausschließlich (oder auch nur in erster Linie) Geist und Seele wahrnimmt.
Ich habe noch nie eine solch "körperbasierte" Lebensbeschreibung gelesen und finde es faszinierend.
Hier ist ein Meister am Werk und es handelt sich trotz dem ständigen Bezug auf den Köper um einen Text voller Reflexionen und Betrachtungen, voller Poesie und Einsichten.
Gleich auf der ersten Seite nennt er seine Intention: er möchte ergründen, "wie das für dich war, in diesem Körper zu leben - vom ersten Tag, an den du dich erinnern kannst, bis heute. Ein Katalog von Sinnesdaten. Was man eine Phänomenologie des Atmens nennen könnte."
Durchgehend spricht er von sich in der zweiten Person, er ist sich selbst ein Freund, ein Du, auf das er schaut und von dem er erzählt.
Er springt dabei oft vor und zurück. Abschnitten, in welchen von dem Fünf- oder Zehnjährigen erzählt werden, kann eine Szene folgen, die sich vor wenigen Jahren ereignet hat. Insgesamt ist die Entwickung jedoch den Jahren entsprechend fortschreitend.
Man erlebt ein sportbegeistertes Kind, das von seinen Aktivitäten viele Verletzungen und Narben davonträgt. Das nicht gerne rauft, aber schon sehr gerne küsst und sich gerne verliebt. Die Entwicklungen in der Pubertät kommen zur Sprache, erste Schritte auf dem Feld der Liebe in den biederen Frühsechzigern. Eine erste Ehe, die kurz nach der Geburt des Sohnes vollends scheitert.
Er berichtet in einer langen und genauen Aufzählung von sämtlichen Wohnorten und Wohnungen (einundzwanzig von der Geburt bis in die Gegenwart), von vielen Reisen mit manchmal monatelangen Aufenthalten, in Paris lebte Auster sogar einige Jahre.
Alle diese Bewegungen waren körperliche Ereignisse.
"Dein Körper in kleinen Räumen und in großen Räumen, dein Körper, der Treppen hinauf- und hinuntergeht, dein Körper, der in Teichen, Seen, Flüssen und Meeren schwimmt, dein Körper, der über schlammige Äcker trampelt, dein Körper, der im hohen Gras einsamer Wiesen liegt, dein Körper, der durch Straßen geht, ... an Küchentischen isst, ... für Pässe und Führerscheine Schlange steht, sich auf Sesseln zurücklehnt, ... langsam durch Museen schreitet, auf Spielplätzen mit Basketbällen dribbelt..." - diese Aufzählung ist ca. eineinhalb Seiten lang und könnte sicher beleibig lange fortgesetzt werden.
Mit vierunddreißig Jahren, kurz nach dem Tod seines Vaters, lernt er die Frau kennen, mit der er bis heute zusammenlebt und die er nach dreißig Jahren noch genau so liebt wie am ersten Tag: Siri Hustvedt, heute eine der renommiertesten Schriftstellerinnen Amerikas.
Austers und Hustvedts familiäre Herkunft unterscheiden sich beträchtlich. Dieses Erbe denkt er mit, wenn er sich an die gemeinsamen Jahre erinnert, es ist Teil der Biographie und damit des Körpers.
Eine lange Reflexion ist Austers Mutter gewidmet. Auf über 35 Seiten spürt er den drei Personen nach, die sie für ihn war, die leidenschaftlich für ihr Kind Paul sorgte und um die er sich liebevoll kümmerte, als sie nicht mehr auf der Höhe war.
Ihr Tod, wie einige andere schwierige Situationen in seinem Leben, löst einen körperlichen Zusammenbruch aus.
"Das ist die wiederkehrende Geschichte deines Lebens. Wann immer du an eine Weggabelung kommst, bricht dein Körper zusammen, denn dein Körper hat schon immer gewusst, was dein Kopf nicht weiß, und wie er auch zusammenbrechen mag, ob in Form von Drüsenfieber, Gastritis oder Panikattacken, hat er immer die Hauptlast deiner Ängste und inneren Kämpfe getragen und die Schläge eingesteckt, die dein Kopf nicht auszuhalten bereit oder imstande ist."
Behinderte, körperlich gehandicapte Klassenkameraden lehrten ihn unendlich viel.
"In der Rückschau hast du das Gefühl, dass diese Menschen ein wesentlicher Teil deiner Erziehung waren, dass du ohne sie nur ein lückenhaftes Verständnis hättest von dem, was es heißt, ein Mensch zu sein, dass es dir an Tiefe und Mitgefühl, an jeglicher Einsicht in die Metaphysik von Schmerz und Unglück fehlen würde, denn diese Kinder waren die Heldenhaften, sie waren es, die sich zehnmal so viel anstrengen mussen wie alle anderen, um einen Platz für sich zu finden. Hättest du ausschließlich unter körperlich Gesunden gelebt, unter Kindern wie du selbst, die ihren wohlgeformten Körper für etwas Selbstverständliches hielten, wie hättest du jemals lernen können, was Heldentum ausmacht?"
Immer stellt Auster den Bezug zum Körper her, der für ihn kein Werkzeug ist. Viel eher ein Lehrer, der hinweist, klarmacht, be-greift, antwortet, Türen öffnet und und und.
Wie die Tänzer, die ihn 1978 gerettet haben, die ihn ins Leben zurückholten:
"...sie haben es dir möglich gemacht, jene Offenbarung, den einschneidenden Augenblick von Klarheit zu erleben, der dich durch einen Spalt im Universum stieß und dir erlaubte, noch einmal von vorn anzufangen."
Der Körperbezug ist an keiner Stelle banal. Er erdet, ohne die Verbindung zum Geistigen zu verlieren.
Paul Auster: Winterjournal
aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz
Rowohlt, 2013, 256 Seiten
Rowohlt Taschenbuch, 2015, 256 Seiten
(Amerik. Originalausgabe 2013)