Lukas Hartmann - Abschied von Sansibar

 

 

Lukas Hartmann hat sich mit historischen Romanen einen Namen gemacht, die nicht in der Vergangenheit verweilen. 

Sie haben immer einen Bezug zur Gegenwart und stellen Fragen, die an keine bestimmte historische Zeit gebunden sind - und das zeichnet sie aus.

 

Sein wunderbarer neuer, atmosphärisch sehr dichter Roman basiert auf einer wahren Geschichte, die im

19. Jahrhundert auf Sansibar beginnt und bis in die deutsche Nachkriegszeit reicht.

 

Diese Geschichte kreist um Emily Ruete, geboren als Salme bint Said im Jahr 1844, Tochter des Sultans von Oman und Sansibar.

Sie lernt als junge Frau den Kaufmann Heinrich Ruete aus Hamburg kennen, der auf Sansibar tätig ist.

Die beiden verlieben sich ineinander, Salme wird schwanger. Nach islamischen Recht müsste ihr Bruder sie dafür töten, doch ihr gelingt die Flucht nach Aden.

Dort wartet Salme mehrere Monate auf Heinrich.

Am Tag seiner Ankunft tritt sie zum christlichen Glauben über, nimmt den Namen Emily an und heiratet ihn.

Auch der Sohn wird getauft.

Auf der langen Reise nach Hamburg stirbt das Kind.

 

Man kann sich vorstellen, wie schwer es für Emily ist, sich in Hamburg einzuleben. Das Klima, die Kleiderordnung, die gesellschaftlichen Konventionen, die Sprache, viele Kleinigkeiten bis hin zu ungewohnten Alltagsgegenständen - und oft wird sie auch noch angegafft wie ein exotisches Tier.

 

Bald nach der Ankunft in Hamburg kommt die Tochter Antonie Thawka (1868) zur Welt, gefolgt von Rudolph Said (1869) und Rosalie Ghaza (1870) - Emily scheint nicht unglücklich gewesen zu sein, die Kinder füllen ihr Leben aus.

Dann passiert das Fürchterliche: Heinrich stirbt vier Monate nach Rosalies Geburt an den Folgen eines Unfalls.

Emily, die auf Sansibar als vierzehnjährige Plantagen verwaltete, wird als Witwe unter Vormundschaft gestellt, die Verwalter veruntreuen dann auch noch einen Teil des Vermögens.

 

Es beginnt ein langsamer, aber unaufhaltsamer Abstieg in die Armut. Die Familie zieht aus Hamburg weg ins günstigere Dresden, dann nach Rudolstadt, später nach Berlin. In immer kleinere Wohnungen, an Dienstmädchen ist nicht mehr zu denken.

 

Zwei Mal reist Emily mit ihren Kindern nach Sansibar. Sie möchte den Herrscher, ihren Halbbruder, dazu bringen, ihr das Erbe auszuzahlen und ihre Kinder als legitime Nachkommen des Herrscherhauses zu akzeptieren.

Das alles gelingt ihr nicht, für die Familie ihrer Kindheit oder Herkunft ist sie mit dem Übertritt zum Christentum gestorben.

Nach Deutschland, von dem sie sich verraten fühlt, möchte sie schließlich auch nicht mehr zurück. Sie lässt sich in Beirut nieder, zeitweise leben alle drei Kinder bei ihr, lange Jahre aber nur Rosalie, die jüngste.

 

Die Kinder machen völlig unterschiedliche Entwicklungen durch. Antonia heiratet einen sehr deutschnational gesinnten Mann, der Gouverneur auf einer Südseeinsel wird. Rosalie heiratet einen Offizier aus Jena, der später General wird. Und Rudolph (der eine Militärlaufbahn aufgegeben hat) heiratet eine Jüdin aus sehr reichem Hause, was ihm die Möglichkeit gibt, als Privatier zu leben.

Er setzt sich Zeit seines Lebens für Frieden und Völkerverständigung ein, hat aber am Ende das Gefühl, nichts erreicht zu haben.

 

Emily stirbt 1924, die letzten Jahre verbrachte sie bei Rosalie in Jena. Die Kinder sehen sich erstmals nach langer langer Zeit wieder und kommen sich auch wieder etwas näher. Doch bereits bei der Urnenbeisetzung geraten sie in heftigen Streit, der vielleicht bei so unterschiedlichen Lebensläufen nicht ausbleiben kann.

 

Zu Lebzeiten veröffentlichte Emily die "Memoiren einer arabischen Prizessin", ein vielgelesenes Buch. Nach ihrem Tod tauchen Briefe auf, die Emily für sich selbst geschrieben hatte und die ein anderes Licht auf die oft mürrische und schweigsame Frau werfen und den Kindern erstmals Einblicke ins Innere ihrer Mutter geben.

 

Soweit der Inhalt. Hartmann hat daraus einen sehr vielschichtigen Roman konzipiert, der immer wieder die Perspektive wechselt.

Im ersten Kapitel, in einer Art Exposé, führt Rudolph Anfang 1946 in einem Luzerner Hotel ein Selbstgespräch, in dem der Leser alles Wichtige erfährt. Die Flucht der Mutter, der Tod des Vaters, die Lebensdaten der drei Geschwister, der vergebliche Kampf um Anerkennung ihrer Interessen - die "Eckdaten" werden genannt.

 

In den folgenden Kapiteln springt Hartmann vor und zurück, mal lesen wir die Gedanken und Erinnerungen Rudolphs, dann die seiner Schwestern, es werden Briefe geschrieben, manchmal schreibt er in der Ich-Perspektive. 

Dies alles macht den Roman ausnehmend spannend und interessant. Langsam setzt sich so ein komplexes Bild zusammen, das die immer gleichen Fragen von verschiedenen Seiten beleuchtet. Hartmann schlägt sich nicht auf die Seite einer seiner Figuren, sie stehen gleichberechtigt nebeneinander, er stellt sich wie Rudolph in den Dienst der Verständigung.

 

Was passiert mit einem Menschen, der Heimat, Familie, Sprache und Kulturkreis verlässt? Der dann auch noch den Menschen verliert, für den er dies alles getan hat und darüber hinaus zum Spielball in einem politischsen Ränkespiel wird? - Die Kolonialinteressen Deutschlands sind stets Subthema. Und stets schwingen die Fragen nach der Möglichkeit des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen mit.

 

Rudolph, der selbst halb Araber, halb Deutscher ist, lebt mit einer konvertierten Jüdin zusammen, die Mutter gab ebenfalls ihren islamischen Glauben auf, kam aber innerlich nie ganz im Christentum an.

Die beiden Frauen mögen sich überhaupt nicht, wenn möglich gehen sie sich aus dem Weg und das, obwohl sich ein Teil ihrer Lebensgeschichte gleicht.

Schon im kleinen Kreis der Familie scheint ein Zusammenleben zu schwierig... 

 

Am Grab der Mutter sagt Antonie die schlichten Satz: "Ich frage mich manchmal, wohin wir drei eigentlich gehören."

 

Und einer der letzten Gedanken Rudolphs, der an einem Herzinfarkt stirbt, gilt der Mutter:

"Ich weiß, ich bin ungerecht, Mutter. Du hast gelitten, du wolltest nicht die sein, zu der du wurdest. Aber du hast doch die Richtung, die dein Schicksal nahm, selber gewählt. Und ich? Ich wurde in meinen Zwiespalt hineingeboren. Ich hatte keine Wahl. Oder hatte ich sie doch? Ich hätte Offizier bleiben können. Ich hätte nicht Therese zur Frau wählen müssen. Ich hätte in Deutschland bleiben können. Ich hätte schweigen können, statt meine Stimme gegen den Krieg zu erheben..Ach ja, ich hätte mir so vieles ersparen können.."

 

Aber hätte ihn das aus seinem Zwiespalt befreit?

 

 

 

 

 


Lukas Hartmann: Abschied von Sansibar

Diogenes, 2013, 336 Seiten

Diogenes Taschenbuch, 2015, 336 Seiten