Ljudmila Ulitzkaja - Die Lügen der Frauen

 

 

Dies ist nicht das neueste Buch Ulitzkajas, aber ein sehr schönes, das ihr ganzes Können zeigt.

Es umfasst sechs Erzählungen, die von einer Person zusammengehalten werden: Shenja.

In der ersten Geschichte ist sie noch Zuhörerin, im weiteren Verlauf entwickelt sie sich zur Protagonistin.

 

 

Shenja hat offene Ohren für die Nöte ihrer Nächsten. 

In der ersten Erzählung lernt sie im Urlaub, den sie mit ihrem kleinen Sohn am Meer verbringt, eine elegante, mondäne Frau kennen, die ihr von ihrem Schicksal erzählt. Dieses war grausig, starben ihr doch vier Kinder weg, erst das fünfte überlebte. 

An einem anderen Ort trifft Shenja Nadja, ein zehnjähriges, sehr aufgewecktes Mädchen, das allerhand interessante Geschichten erzählt, unter anderem von ihrem Bruder. 

In der folgenden Erzählung reist Shenja nach Zürich, dort soll die Russin für einen Film Prostituierte interviewen, die aus ihrer Heimat kommen und nun im Westen Sklavinnen der russischen Mafia sind. Alle erzählen mehr oder weniger die gleiche Geschichte: liebe Mutter, früh verstorbener Vater, Stiefvater, der sie als Teenager vergewaltigte, dann die Flucht in den Westen, die im "Klub" endete.

 

Shenja erfährt am Ende jeder Erzählung, dass sie Lügen aufgetischt bekommen hat: die eine hatte nicht fünf Kinder, das junge Mädchen keinen Bruder, die russischen Prostituierten sicher nicht alle die gleiche Vergangenheit.

Und das wunderbare an diesem Buch: Shenja hört weiter zu. Sie wendet sich nicht ab von all den Lügen, mit welchen die Menschen sich interessant machen, sie hört noch eifriger zu. Versucht zu trösten und zu helfen wo es geht. Sie weiß, dass die Wahrheit nicht immer den geraden Weg geht, dass manchmal eine Lüge weiterhilft und sie nimmt sich nicht das Recht, moralisch über andere zu urteilen.

 

Diese Haltung Shenjas macht das Buch so leichtfüßig, so amüsant bei allem Ernst, der auch darin steckt. 

Lebensklug nimmt Shenja die Menschen, wie sie sind, sie selbst profitiert auch davon: nach einem schweren Unfall (davon handelt die letzte Erzählung) wird sie von einer Freundin, die ihr jahrelang auf die Nerven ging und für die sie doch immer da war, zurück ins Leben geholt. Diese Freundin hat dafür eine ganz verschrobene Begründung, Shenja glaubt ihr kein Wort, aber die "Behandlung" schlägt an und für Shenja gibt es eine Zukunft.

 

Eine kleine Kostprobe:

"Ein Mann ist etwas Wunderbares, aber wozu so etwas zu Hause halten?" fragte Anna Weniaminowna mit besagtem Lächen ihre ehemalige Doktorandin Shenja, eine ebenfalls nicht mehr junge Frau, in bezug auf die Wirkungen ihres komplizierten Liebeslebens, und diese erwiderte prompt: "Anna Weniaminowna, ich hole mir ja auch Bügeleisen, Kaffeemaschine und Mixer nicht jedesmal von der Nachbarin, sondern hab mir eigene angeschafft. Warum soll ich mir einen Mann borgen?" 

 

Das ist eine Logik, gegen die sich nichts vorbringen lässt und wer könnte diesem Humor widerstehen?

 

 

 

 

 

 

 

 

Ljudmila Ulitzkaja: Die Lügen der Frauen

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt

Hanser Verlag, 2002, 164 Seiten

Taschenbuch im dtv, 2005, 164 Seiten