Linus Reichlin - Das Leuchten in der Ferne
Nach drei mit diversen Preisen ausgezeichneten Kriminalromanen um den Ermittler Jensen hat Linus Reichlin nun einen Roman geschrieben, der zum großen Teil in Afghanistan spielt und mindestens so spannend ist wie ein Krimi.
Protagonist ist der 53jährige Moritz Martens, der auf dem Bürgeramt in Berlin eine junge Frau kennen lernt. Sie ist dort mit ihrem kleinen Sohn, der sehr unruhig ist. Martens spielt Gentleman und lässt sie vor.
Dafür revanchiert sie sich mit einem Abendessen am selben Tag. Es ist also eine sehr junge Bekanntschaft, doch Miriam Khalili, eine Halbafghanin, macht keine großen Umstände und kommt gleich zum eigentlichen Grund für die Einladung.
Martens hatte ihr erzählt, dass er Reporter ist, der aus Kriegsgebieten berichtet, seit einiger Zeit aber keine Aufträge mehr bekommt und deshalb zum Amt musste. Der Leser erfährt außerdem, dass Martens in eine billige kleine Wohnung umziehen musste, geschieden ist, Vater einer erwachsenen Tocher, für die er nie Zeit hatte (er war ja immer in aller Welt unterwegs) und außerdem lernt man den einen oder anderen Umstand der heutigen Medienwelt kennen.
Miriam erzählt ihm, sie wisse von einem Mädchen, das sich als Junge verkleidet hat und inmitten einer Gruppe von Taliban in den Bergen Afghanistans lebt.
Malalai sei bereit, für zehntausend Dollar ein Interview zu geben, mit diesem Geld könne sie dann ins Ausland gehen, denn wenn sie entdeckt würde, bedeute dies den Tod durch Steinigung.
Miriam spricht recht vage von Informanten, die Sache sei sicher, er könne eine große Geschichte daraus machen.
Sie selbst sei Fotografin und liefere die Bilder dazu.
Martens überlegt nicht lange. Er ruft den Chefredakteur einer großen Zeitung an und bietet ihm den Artikel für besagte Summe an.
Der sagt zu und schon nach kurzer Zeit sind Miriam und Martens auf dem Weg nach Kabul.
Schon beim Abflug fällt Martens auf, dass Miriam keine Kameratasche dabei hat. Aber vielleicht ist die im Koffer?
Auch im Bundeswehrcamp, wo die beiden wohnen, fotografiert sie nicht. Das ist auffällig und ungewöhnlich.
Der Leser erfährt einiges über die sogenannten "Bacha Posh", jenen Mädchen, die das Leben von Jungen führen. Meist auf Wunsch der Eltern, die es nicht ertragen, ein (weiteres) Mädchen bekommen zu haben. Im Alter von dreizehn Jahren müssen sie aber in ihr Frauendasein zurück, sie werden verheiratet. Manche Mädchen tauchen dann unter, sie wollen nicht das Schicksal ihrer Schwestern teilen, die sie zuvor herumkommandieren und verachten durften.
Eine von diesen Bacha Posh ist also Malalai, die sich der Gruppe um Dilawar Barozai angeschlossen hat, einem besonders brutalen Anführer. Sie trägt den Namen Pason, spricht auch ein wenig Englisch und möchte mit Martens reden.
Die Fahrt zu der Gruppe um Barozai ist mehr als abenteuerlich, nicht nur weil Martens sich in Miriam verliebt. Es dämmerte ihm schon länger, nun wird ihm vollends klar, dass an ihrer Geschichte einiges nicht stimmt. Wahr ist, dass Miriams Vater Afghane ist, wie sie erzählt hatte, und dass sie dringend Geld braucht. Alles andere ist frei erfunden.
Die Geschichte nimmt nun eine unerwartete Wendung.
Martens befindet sich nach der Auslösung von Miriams früherem Ehemann Evren - seine Befreiung war der eigentliche Grund der Reise und dafür waren auch die zehntausend Dollar - selbst in den Händen der Taliban.
Mit diesen zieht er vier Monate durch die Berge, teilt Hunger, Kälte und Kämpfe mit ihnen.
Es verflechten sich nun zwei Gedankenstränge, die den ganzen Roman durchziehen.
Martens ist ein Kriegsreporter, weil er in der Normalität des Alltags nicht bestehen kann. Nach kurzer Zeit zu Hause, bei Frau und Kind, mit einem gleichförmigen Tagesablauf, in Wärme und Sicherheit, kann er nicht leben.
Ein Sonntagsspaziergang am See scheint für ihn schlimmer zu sein, als stundenlanges Ausharren in einem Versteck.
Er schreibt, dass er manchmal auf einem Bein aus der Dusche hüpft, um ein wenig Abwechslung in diese Tätigkeit zu bringen.
Als er noch ein "viel gelesener" Reporter war, schrieb er über einen jungen Soldaten, der aus Afghanistan zurückgekehrt war. Martens hatte ihn dort und in den ersten Wochen in Deutschland begleitet.
Der Soldat war nach seiner Rückkehr ein anderer als zuvor: launisch, ohne Motivation, aggressiv. Es wird ihm eine "posttraumatische Störung" attestiert, doch Martens erkennt etwas anderes an dem Soldaten. Dieser leidet unter dem Terror des Alltags.
Martens war Zeuge von Soldat Kampes bester Zeit gewesen, der sich in der "Einfachheit der Kriegswelt" wohl gefühlt hatte.
"Selbst die Angst hatte Kampe genossen, sie hatte ihn belebt wie zuvor nichts anderes. Der Truppenpsychologe irrte sich: Kampes Trauma war nicht der Krieg, sondern das Häuschen in Rankwitz, die Rückkehr zu Frau und Kind.
Sein Trauma war das gewöhnliche Leben, das so schwierig zu führen war, weil es aus lauter Belanglosigkeiten bestand, zu deren Bewältigung dennoch eine große Anstrengung nötig war."
Diese Reportage brachte Martens wenig Beifall, denn sie entspricht so gar nicht der gängigen Vorstellung, die man sich vom Soldaten in Krisengebieten macht. Das Leiden Kampes dürfte Martens kein fremdes sein, flieht er selbst doch den Alltag wo es geht.
Und als er nun in den Händen der Taliban ist, erlebt er dort im Grunde das gleiche.
"Omar und Dilawar...suchten nicht nach Glück. Sie hatten sich für das Herumstreifen entschieden, weil ihnen bei der Feldarbeit Wurzeln gewachsen waren...und ein heimliches Grauen hatte sie anfällig gemacht für die Versprechungen des Horizonts. Ein verlockender Sog in die Ferne..."
Seegemann (der Bundeswehroffizier) versprach ihnen Schulen, Krankenhäuser, Sicherheit "aber er versprach ihnen nicht diese besondere Freiheit, die sie auf ihren Streifzügen erlebten, und nicht das Hochgefühl, gefürchtet zu werden. Alles, was er ihnen in Aussicht stellte, war schal verglichen mit dem Triumph, wenn du in ein Dorf kommst und die Bauern dich wie einen Qadi oder wie einen Mullah behandeln, obwohl du selbst auch nur ein Bauer bist."
Reichlin zeichnet mit Martens ein eher unbekanntes Bild des Krieges, speziell in Afghanistan, aber es dürfte auf andere Kriege übertragbar sein.
Er zeigt einige Menschen, die diesen Krieg führen und fragt sich: Warum tun sie das?
Man muss seinem Erklärungsversuch nicht zustimmen, um den Roman mit Interesse zu lesen.
Linus Reichlin: Das Leuchten in der Ferne
Galiani, 2013, 320 Seiten
Kiepenheuer&Witsch-Tb, 2014, 304 Seiten