Julie Otsuka - Wovon wir träumten

 

 

Dieses Buch ist ein echter Überraschungserfolg: erschienen im Jahr 2012 ist es jetzt bereits in der 7. Auflage, das ist beachtlich.

Ich möchte es ein "Frauenschicksale"-Buch nennen, wenngleich es nicht nur von Frauen handelt.

 

Der Roman beginnt mit der Überfahrt einer Gruppe junger Japanerinnen nach Amerika am Anfang des

20. Jahrhunderts. Sie alle reisen zu ihnen unbekannten Männern, die sie auf Fotos gesehen haben und die sie heiraten sollen. Sie verlassen ihre Familien, ihr Land, ihren Kulturkreis, begleitet von "Reisehandbüchern", in welchen das wichtigste steht (in der Praxis aber nicht hilft).

 

Der erste Schock entsteht, als sie ihre Ehemänner zum ersten Mal sehen: die Fotos waren jahrzehntealt, das hübsche Haus im Hintergrund wohl nicht seines. Die erste Nacht mit ihm ist ein Ankommen in der Realität, ein Aufprall in der Wirklichkeit ohne Fluchtmöglichkeit.

 

Diese Frauen wollten die Reisfelder für immer verlassen,

sie verließen lediglich die japanischen, nun schuften sie für einen Boss, oft bis zum Umfallen.

Manche schaffen es in ein gehobeneres Haus und arbeiten als Dienstmädchen. Die weißen Frauen bringen ihnen alles bei, was sie wissen müssen, dafür erledigen die Japanerinnen dann auch alles für sie: nicht nur den Haushalt, sie singen auch die Kinder in den Schlaf.

Ihre eigenen Babys sehen sie oft kaum, die sind für sich selbst zuständig, sie wachsen heran zu Kindern, die oft ihre Herkunft verleugnen, in der Sprache, den Sitten, den Ansichten.

 

Diese Frauen leisten unglaublich viel, kommen darüber sich selbst abhanden, kein einziger Traum ist in Erfüllung gegangen. Die Japaner finden ihren Platz unter den Landwirten und im Handel, sie betreiben Wäschereien und Restaurants und erfahren zwar keine echte Anerkennung, aber sie haben ihr Auskommen.

 

Die Situation ändert sich schlagartig mit Pearl Harbor: plötzlich sind alle Japaner Verräter, Spione, Feinde. Sie werden abgeholt, zuerste einzelne Männer, dann ganze Familien, schließlich alle. Wohin sie gebracht werden, weiß niemand. Doch für jeden kommt der "Letzte Tag".

Das letzte Kapitel ist überschrieben mit "Ein Verschwinden": dies ist innerhalb des Romans ein Perspektivwechsel. Bisher erzählte eine Frauenstimme von "uns", sie sagte "wir", nun spricht "man" über "die Japaner" - sie sind buchstäblich verschwunden, als Personen nicht mehr da.

 

Sprachlich zeichnet sich der Roman durch ganz eigenartige Aufzählungen oder besser Herzählungen aus: in dem Kapitel "Erste Nacht" lesen wir hundert Arten, auf die diese für die einzelne Frau verlief. Wir lesen eine Aneinanderreihung der Tätigkeiten für die Weißen und deren Haltung dabei, wir lesen, wie und wo die Babys geboren wurden, die jungen Menschen sich entwickeln.

Das hat etwas von einem Singsang und auch etwas Magisches: Jeder Satz beinhaltet ein Schicksal. Jede dieser Frauen erleidet im Grunde das Gleiche, aber jede auf eine ganz andere Art.

Nach jedem Satz sollte man kurz innehalten und das Gelesene bedenken, es steht so viel drin.

 

Man hat nach Beendigung der Lektüre den Eindruck, ein ganz dickes Buch gelesen zu haben, das ist es nicht, aber es ist ein sehr dichtes Buch.

Keine Frau wird als Einzelperson beleuchtet, es kommt kein einziges Mal "ich" vor, es ist immer ein "wir", aber die Geschichte wird dadurch nicht unpersönlich, sondern universell. Das ist großartig.

 

 

 

 

 

 

Julie Otsuka: Wovon wir träumten

Übersetzt von Katja Scholtz

mare Verlag, 2012, 160 Seiten

Goldmann Taschenbuch, 2014, 160 Seiten