Julian Barnes - Vom Ende einer Geschichte
Diese Geschichte erschließt sich wirklich erst ganz am Ende und lässt den Leser erstaunt, ungläubig, zweifelnd zurück. Zweifelnd vor allem daran, ob man das nun wirklich richtig verstanden hat, weil es so überraschend ist. Das ist hervorragend gemacht!
Dieser durch und durch angelsächsische Roman liest sich leicht, doch wie bei guten Krimis muss man manchmal ein Stück zurück blättern, weil er trotz der Leichtigkeit wache Aufmerksamkeit fordert.
Die Geschichte: ein Dreierbund von jungen Männern, sechzehn, siebzehn Jahre alt, die eine gute Schule im London der sechziger Jahre besucht, wird ergänzt durch einen etwas geheimnisumwobenen weiteren jungen Mann, Adrian. Er ist sehr intelligent, denkt äußerst logisch und philosophisch und beeindruckt Mitschüler und Lehrer gleichermaßen mit seinen klugen Gedankengängen.
Tony, Colin und Alex werben um seine Freundschaft, die er auch gerne annimmt.
Nach dem Ende der Schulzeit verlieren sie sich zunehmend aus den Augen, ein Donnerschlag führt die drei Freunde wieder kurz zusammen: Adrian hat sich mit 22 Jahren das Leben genommen.
Doch für jeden geht das Leben weiter: Studium, Praktika, Auslandsaufenthalte, Freundinnen, Beruf.
Tony, der die ganze Geschichte aus dem Rückblick erzählt, heiratet, bekommt eine Tochter, lässt sich scheiden und führt nun ein zufriedenes Rentnerleben mit ehrenamtlichen Tätigkeiten.
Da bekommt er eines Tages überraschend Post von einer Anwältin: die Mutter seiner Ex-Freundin Veronica, die nach der Trennung von Tony mit Adrian zusammen war, hat ihm Adrians Tagebuch vermacht.
Tony ist total überrascht. Woher hat Sarah Ford das Tagebuch? Warum vermacht sie es gerade ihm? Und warum möchte Veronica ihm das Buch nicht aushändigen?
Tony nimmt Kontakt zu Veronica auf und beginnt damit eine Reise in die Vergangenheit, in der bald nichts mehr an dem Platz ist, an den seine Erinnerungen die Dinge gestellt hatte.
Tony wird von Veronica sehr abweisend behandelt (sie war noch nie eine pflegeleichte Frau), aber immerhin: sie trifft sich mit ihm. Und jedes Treffen, selbst wenn sie fast nichts spricht, löst doch ganze Gedankenkaskaden in Tony aus.
Sie gibt ihm einen Brief, den er selbst mit zwanzig Jahren an Adrian und Veronica geschrieben hatte - und Tony erkennt sich nicht wieder.
So war er gewesen?
Langsam aber sicher kommt alles ins Rutschen. Das schöne ist, dass Tony nicht den Kopf in den Sand steckt, sondern bereit ist, sich selbst neu zu denken, sicher Geglaubtes beiseite zu legen.
So kommt ihm auch eine alte Aussage aus der Schulzeit wieder ins Gedächtnis:
"Was hatte Old Joe Hunt (der Geschichtslehrer) erwidert, als ich naseweis behauptete, Geschichte sei die Summe der Lügen der Sieger?
"Solange Sie im Auge behalten, dass sie auch die Summe der Selbsttäuschungen der Besiegten ist."
Behalten wir das genügend im Auge, wenn es um unser persönliches Leben geht?"
Tony denkt über Charakter nach, über Mittelmäßigkeit, Intelligenz, Reue, die Veränderbarkeit der Vergangenheit oder der Erinnerungen daran - er tut dies niemals mit einer Weltschmerz-Haltung.
Und das tut gut. Das ist sogar wirklich unterhaltsam.
Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte
aus dem Englischen von Gertraude Krueger
Kiepenheuer & Witsch, 2011, 181 Seiten
Taschenbuch: btb, 2013, 192 Seiten
(Engl. Originalausgabe 2011)