Einzlkind - Harold

 

 

Dies ist ein absolut schräger, durch und durch englischer Roman - britischer Humor at its best.

Harold ist nicht der Autor (dieser ist unbekannt, es wird lediglich mitgeteilt, dass er Nichtraucher sei und sich kürzlich eine neue Kaffeemaschine gekauft habe), sondern die Hauptperson.

Genauer gesagt, eine der beiden Protagonisten, denn da gibt es auch noch Melvin, eine elfjährige Nervensäge. Und auf diesen "Savant", wie er sich nennt, muss Harold eine Woche lang aufpassen.

 

Doch der Reihe nach: Harold ist um die vierzig, alleinlebend, und nach siebzehn Jahren verliert er seinen Arbeitsplatz als Wurstverkäufer. Dafür hat seine Erzfeindin aus der Käseabteilung gesorgt.

Seine Sozialkontakte außerhalb der Arbeit beschränken sich auf drei ältere Damen, mit denen er regelmäßig Bridge spielt. Nicht, dass ihm das Spaß machen würde, er ist auch nicht gut, aber es fehlte die vierte Person und er füllt die Lücke.

 

Sein eigentliches Hobby ist der Selbstmord. Ja, er erhängt sich einmal im Monat, nie dienstags, aber vor 21 Uhr. Manchmal schneidet er sich auch die Pulsadern auf.

Das scheint wohl eine englische Variante der Alltags- oder Stressbewältigung zu sein.

Es bereitet ihm jedenfalls Vergnügen und die Nachbarn haben sich mittlerweile daran gewöhnt.

 

Kurz nach der Entlassung tritt unverhofft Melvin in Harold Leben. Er zog mit seiner Mutter in die Nachbarwohnung. Denise Bentham muss plötzlich geschäftlich verreisen und lädt ihren Sohn für eine Woche bei Harold ab, der ja Zeit hat.

Harold weiß überhaupt nicht, wie ihm geschieht, er kann sich nicht wehren, er akzeptiert dieses Schicksal wie alles andere in seinem Leben auch.

 

Zuerst erklärt Melvin Harold, mit wem er es zu tun hat:

"Ich bin ein Genie. Ich habe ein fotografisches Gedächtnis. Im Gegensatz zu den meisten Savants bin ich aber kein Autist. Ich kann alleine mit dem Bus fahren und bin der Kontemplation fähig, Dialektik, Sie verstehen?"

Melvin hat zwei Klassen übersprungen, erklärt dem Lehrer die Mathematik, gewinnt Schachmeisterschaften, kennt alle Beethoven-Sonaten auswendig, hat alle 1238 Bücher seines Großvaters im Kopf gespeichert und ist vom Sportunterricht befreit. Alles klar?

 

Würde man sagen, dass Harold nach diesen Informationen der Kopf schwirrt, wäre das reichlich untertrieben. Aber es kommt noch viel dicker.

Sie unternehmen etwas zusammen.

 

Eine Wette auf der Pferderennbahn bildet den Auftakt, dieser folgt ein Barbesuch. Um einmal der dauernden Rationalität zu entkommen kauft Melvin zwei kleine LSD getränkte Stückchen Löschpapier, sie besuchen eine Kunstausstellung, die in diversen Chaostheorien endet. Sie sehen die Liveperformance eines "rosaroten Badeschafes" - und noch mehr Vergnügungen in dieser Art.

 

Richtig bunt wird es dann, als die beiden sich zusammen auf den Weg machen, um Melvins Vater zu suchen.

Melvin hat keine Ahnung, wer sein Vater ist. Er hat nichts als einen Namen und eine Recherche förderte zu Tage, dass es nur fünf Männer mit diesem Namen in Großbritannien gibt. Melvin überredet (überfährt) Harold, sich mit dem Auto der Mutter auf den Weg zu machen. Er möchte einen nach dem anderen aufsuchen und herausfinden, welcher dieser fünf sein Vater ist.

 

Harold kann nicht anders als losfahren.

In einer aberwitzigen Komödie reisen Harold und Melvin zusammen durch England und zeigen dabei nicht nur verschiedene englische Vorlieben, sondern geben auch Einblicke in diverse "Lebensmodelle".

 

Der erste potentielle Vater ist ein Angehöriger der Upperclass, zufällig stolpern Harold und Melvin in einen "Vater-Sohn-Tag": eine kleine Verwechslungskomödie, die Einblicke in die Seele der Oberschicht gibt.

Der zweite Versuch führt in die Vorstadttristesse zu einem abgehalfterten Boxer - auch er ist nicht der Vater.

Nummer 3 kommt gar nicht in Frage, Nummer 4 schon eher:

"Der junge Jeremiah Newsom aber brach frühzeitig die Schule ab und interessierte sich zeitweise für Gefängniszellen, die er hier und da besuchte. Die langwierigen Prozesse der Aufenthaltsgenehmigungen erarbeitete er sich durch Schlüsselqualifikationen wie Mut, Stärke und Durchsetzungskraft, Eigenschaften, die ihn für schweren Diebstahl und räuberische Erpressung prädestinierten. Mit 21 zog Jeremiah Newsom nach Liverpool und nahm den Nachnamen seines Vaters an. Als Jeremiah Al-Kasim brachte er es binnen zehn Jahren zu lokaler Prominenz in einschlagenden Kreisen. Heute ist er Geschäftsführer einer Im-und Export-Firma, die sich insbesondere auf den Im-und Export konzentriert."

Melvin ist schon fast traurig, dass auch dieser beeindruckende Mann nicht der richtige ist.

 

Die Suche kommt dann doch noch zu einem Ergebnis.

Es ist gleichzeitig erfolgreich und tragisch.

Aber es wirft Melvin nicht aus der Bahn.

Er erinnert sich daran, dass er ja auch noch eine Tante hat.

 

"Sie soll mittlerweile in Wien leben. Und nach meinen Recherchen gibt es nur vier Eleonore Gerswhins in ganz Österreich. Ist das nicht wunderbar?

Harold stirbt."

Ihn fragt ja eh keiner.

 

 

 

 

 

 

 

 

Einzlkind: Harold

Verlag Klaus Bittermann, 2010, 224 Seiten

Taschenbuch: Heyne Verlag, 2011, 222 Seiten