A. S. Byatt - Ragnarök - Das Schicksal der Götter

 

 

 

Diese Schriftstellerin lernte ich im Jahr 1990 kennen, als ihr Buch „Possession“ erschien (drei Jahre später kam es mit dem Titel „Besessen“ auf deutsch heraus).

Damals war meine Englischdozentin ganz begeistert von einem neuen Buch, einem richtig schönen dicken Wälzer, den sollten wir Studentinnen unbedingt lesen, was wir auch sofort taten. Der Funke sprang auf uns über, wir gründeten einen Lesezirkel, denn die Besprechung dieses Textes sprengte den Rahmen, den wir im Seminar dafür gehabt hätten.

 

Dieser Roman ist eine Fundgrube für alle Liebhaber des englischen 19. Jahrhunderts: in nur leicht verschlüsselter Form spielen Elisabeth Barrett-Browning, ihr Mann Robert Browning und einige andere Geistesgrößen der Zeit bis hin zum literarisch verbürgten Hündchen eine Rolle.

Byatt spielt dabei geschickt mit den Figuren, denn die Dichterin, um die es in der Geschichte geht, trägt auch Züge von Christina Rossetti, oder auch Emily Dickinson – es ist herrlich, hier Detektiv zu spielen. Letzten Endes ist das natürlich nur eine „Nebenfreude“, denn der Roman ist auch so unwiderstehlich.

Er beginnt in der heutigen Zeit als zwei Literaturwissenschaftler alte Briefe in der Bibliothek finden und beginnen, daraus  eine Liebesgeschichte zu rekonstruieren, in die eben jene Schriftsteller verwickelt waren. In den Roman eingefügt sind Gedichte, Briefe, Märchen aus der viktorianischen Zeit, die die Lektüre sehr in die Länge ziehen, aber eben auch viel von der damaligen Gedankenwelt erzählen. Spannung wird dadurch erzeugt, dass auch noch andere Wissenschaftler auf der Spur dieser alten Geschichte sind und um den Coup, wer die Wahrheit als erster ans Licht bringt, heftig konkurriert wird.

Es ist also alles drin, was einen guten, englischen Roman ausmacht und er liest sich heute so frisch wie zum Zeitpunkt seines Erscheinens.

 

Das neueste Buch von A.S. Byatt habe ich gerade gelesen. Es trägt den Titel „Ragnarök - Das Schicksal der Götter"  und ist die Geschichte der nordischen Götterwelt.

Sie ist nicht nur eine Nacherzählung der altbekannten Mythen, sondern verwoben mit der Figur des „dünnen Mädchens“, eines Kindes, das die Luftangriffe der Deutschen auf England während des Zweiten Weltkrieges miterlebt.

Sein eigener Vater ist als Flieger in Afrika, es ist alleine mit der Mutter. Und eben doch nicht alleine, denn es liest immer wieder in einer Ausgabe von „Asgard and the Gods“ und findet in diesen Texten seine Welt wieder.

 

Obwohl es zur Kirche geht, kann es nicht an Gott und Jesus glauben, zu sehr ist ihm diese Religion mit Restriktionen und Strafen verbunden.

Die griechischen Mythen liest das Mädchen wie Geschichten, wie Märchen, aber sie bleiben ihm irgendwo fremd.

Die nordischen Sagen hingegen finden Widerhall in ihm, sie leben in ihm (auch wenn sie ebensowenig daran „glaubt“). Das ist für das Mädchen der Unterschied zu allen anderen Geschichten, die es liest: sie leben in ihm, und es lebt in ihnen.

 

Das ist, wie gesagt, die Handlung um die Sagen herum, die aber in eigenen Kapiteln erzählt werden und zwar in einer Art, dass man verstehen kann, warum sie so in das Denken und Fühlen des Mädchens eingingen.

Mir ist die griechische Götterwelt seit langem vertraut, gegen die nordische hatte ich immer meine Bedenken, zu sehr verband ich sie mit einer dunklen Vergangenheit.

Doch jetzt konnte ich die Götter endlich ohne Brille wahrnehmen, Byatt beschreibt sie ohne Psychologie, ohne moralischen Hintergrund, sie sind Träger von Attributen und erscheinen ganz in ihrer Urgewalt.

 

Das dünne Mädchen im Roman wird Zuschauerin, wie die Welt der Götter untergeht, um sie herum passiert das Gleiche. Die Mythen bewohnten ihren Geist, erklären nicht das Geschehen, wappnen sie aber gegen die Gegenwart.

 

 

 

 

 

A.S. Byatt: Ragnarök

Aus dem Englischen von Susanne Röckel

Berlin Verlag, 2012, 128 Seiten

(Englische Originalausgabe 2012)

 


Besessen

Aus dem Englischen von Melanie Walz

Insel Verlag, 2011, 631 Seiten

(Originalausgabe 1992)