Angelika Overath - Alle Farben des Schnees
Senter Tagebuch
Die erste Frage, die ich mir stellte, war: wo liegt Sent?
Es ist ein Bergdorf im Unterengadin auf 1450 m Höhe, man kann es mit Bahn und Bus (über Chur und Scuol) erreichen, oft liegt im Mai, sogar im Juni noch Schnee, der Sommer geht Ende August zu Neige.
Im Engadin befindet sich die wichtigste europäische Wasserscheide, die Flüsse verbinden dieses hochgelegene Stück Land mit dem Schwarzen Meer, der Nordsee, der Adria.
Die Gewissheit, mit den Meeren verbunden zu sein, auch wenn man weit weg davon lebt, gab der Autorin stets das Gefühl von Weite, nahm den Bergen das Erdrückende, verlieh ihnen eher einen Schwung ins Offene.
Es ist sehr schön zu lesen, wie einfach und unprätentiös Angelika Overath ihre Ankunft bzw. ihr Einleben in Sent beschreibt.
Sie kannte das Dorf aus den Ferien schon länger, oft war die Familie dort schon gewandert oder Ski gelaufen, da kam auf einmal der Gedanke auf: wie wäre es, hier zu leben?
Nicht nur ein paar Wochen im Jahr, sondern dauerhaft? Davon träumen viele, wenige wagen den letzten Schritt, die Auflösung der Wohnung „zu Hause“.
Die Entscheidung, nach Sent zu gehen, fiel dann relativ spontan, ein kleines Erbe ermöglichte den Erwerb eines Hauses. A. Overath zog mit ihrem Mann und dem jüngsten Sohn in ihr ehemaliges Feriendomizil. Es war also kein Schritt ins völlig Fremde, aber doch ein Wagnis, denn wie wird man aufgenommen, wenn man Bewohner und nicht mehr Besucher ist?
Eine Besonderheit Sents kam ihnen dabei zu Gute:
im 18. Jahrhundert wanderten viele Senter aus, in allen italienischen Großstädten, aber auch in St.Petersburg oder Kopenhagen gründeten sie Kaffeehausdynastien, ein Fünftel des Dorfes lebte im Ausland, sie waren bekannt als die "Bündner Zuckerbäcker". Viele von ihnen bauten später Häuser in der alten Heimat, verbrachten dort einen Teil des Jahres und brachten so ein Stück Fremde mit, und das tun heute noch ihre Nachkommen.
Die Themen Heimat und Fremde, weggehen, zurückkommen, neu beginnen sind präsent in diesem Dorf, die meisten Menschen sind mehrsprachig, die meisten pflegen neben den offiziellen Sprachen der Schweiz die ursprüngliche Sprache des Engadin: das Rumantsch (Rätoromanisch), das von Dorf zu Dorf, von Familie zu Familie variiert.
Diese Sprache versucht auch A. Overath zu erlernen, in Kursen, im Chor, in Gesprächen mit Nachbarn, sie beginnt Gedichte auf Rumantsch zu schreiben. Es fällt ihr nicht leicht, aber es liegt auf der Hand, dass hier der Schlüssel zum Dorf-Leben liegt, und sie will dort bleiben, auch wenn sie weiterhin viele Reisen unternimmt.
Das Tagebuch ist mehr als ein persönlicher Erfahrungsbericht, es gibt Einblicke in die Kultur des Engadin, auch ein wenig in die Geografie, es stellt grundsätzliche Fragen zum „Wo“ möchte ich leben, das gleichzeitig ein „Wie“ ist und, ganz wichtig: es ist in einer schlicht-poetischen Sprache geschrieben.
Zusätzlich bezauberten mich die eingestreuten romanischen Worte und Gedichte, sie klingen sehr weich und melodisch.
Es ist ein Buch für ruhige Stunden, nachdenkliche Momente, wobei man es durchaus auch spannend nennen kann, denn es nimmt einen in Beschlag, nimmt einen mit in die Berge, interessiert einen und fordert heraus, sich eigene Gedanken zu den angesprochenen Themen zu machen.
Angelika Overath: Alle Farben des Schnees Senter Tagebuch
Luchterhand Verlag, 2010, 254 Seiten
Taschenbuch bei btb, 2013, 254 Seiten