Andrea Camilleri - Die Frau aus dem Meer

 

 

Camilleri kann richtig gute Krimis schreiben (Commissario Montalbano kennt glaube ich jeder),  darüber hinaus schreibt er wunderbar poetische Bücher, die man nicht versäumen sollte zu lesen.

Besonders angetan hat es mir dieser Roman, in dem sich Erde und Meer vermählen.

 

Gnazio Manisco ist als Zwanzigjähriger von Sizilien nach Amerika ausgewandert, wo er zuerst Maurer und dann Gärtner wurde. Er widmet sich viele Jahre lang der Baumpflege und ist nicht unzufrieden mit seinem Leben.

Als er nach einem Unfall Geld von einer Versicherung bekommt, kann ihn jedoch nichts mehr in Amerika halten: er kehrt zurück und kauft sich ein Stück Land, das er urbar macht.

 

Sein Grund und Boden ist eine Landzunge, an drei Seiten vom Meer umgeben und auch von Wasser unterspült. Gnazio kann jedoch nicht einmal das Wort "Meer" hören, ohne dass ihm schwindelig wird, deshalb baut er sein Haus so, dass es nur zur Landseite hin ein Fenster hat und er das Meer nicht sehen muss.

Als er sich soweit eingerichtet hat, beauftragt er Donna Pina, ihm eine Frau zu suchen. Donna Pina ist eine kräuterkundige alte Frau, zuständig für Krankheiten, Geburten, Hochzeiten, die Liebe, Sterbebegleitung, kurzum: für alles Wichtige im Leben.

Gnazio ist nun schon fünfundvierzig, seit dem Unfall hinkt er ein wenig, er ist also nicht mehr unbedingt erste Wahl. Aber Donna Pina überprüft gewissenhaft seine Männlichkeit und sieht einer Verheiratung nichts im Wege stehen.

 

Ihr dritter Vorschlag ist der passende: sie zeigt ihm ein Foto von Maruzza Musumeci und Gnazio verliebt sich auf der Stelle in sie. Sie ist eine bezaubernde Frau, jung, kräftig, wunderschön.

Die beiden sind sich schnell handelseinig, denn es gibt nur eines zu beachten: Gnazio muss einwilligen, dass Maruzza tun darf, was sie möchte. Und dies ist nichts Geringeres als dann, wenn sie der Drang überkommt, in Meerwasser zu baden, denn Maruzza ist eine Sirene. Dafür muss Gnazio zwei große Wassertanks bauen, denn Maruzza will nackt baden und im Meer könnte man sie sehen. Wenn sie badet, will sie singen, und diesen Gesang kann man weithin hören. Gnazio willigt ein, denn er hält das alles für eine Marotte, die sicherlich verschwinden wird. Aber da täuscht er sich. Maruzza wird ihr Leben lang vom Meer angezogen, sie hört nie auf, in ihr Horn zu singen und im Innersten eine Sirene zu sein.

 

Sobald die Urgroßmutter Maruzzas, Minica, überzeugt ist, kann geheiratet werden.

Minica ist fast hundert, aber kein bisschen alt. Sie scheint alterslos zu sein und Dinge zu wissen, die ein Mensch nicht wissen kann. Sie und Maruzza sprechen manchmal in einer Sprache miteinander, die Gnazio nicht kennt, es ist Griechisch und sie sprechen von Odysseus und seinen Männern.

Minica und Donna Pina vollziehen eine archaische Hochzeitszeremonie, die Gnazio vollständig verwirrt, noch bevor mit Papieren auf dem Amt geheiratet wird.

Nun zieht Maruzza bei Gnazio ein, und die beiden verleben nicht enden wollende Flitterwochen, Gnazio ist berauscht von seiner schönen Frau.

 

Das erste Kind ist ein Junge (Cola): hier kommt Minica nicht vorbei nach der Geburt, das tut sie erst beim 2. Kind, einem Mädchen namens Resina, das im Wasser der Zisterne zur Welt kommt. Als Gnazio sie sieht, erstarrt er vor Schreck: Resina hat keine Beine, sondern einen Fischschwanz. Donna Pina beruhigt ihn sofort: das sei das "Hemd", das Neugeborene anhaben, sie wäscht es ab und es zeigen sich dann auch menschliche Beine und Füße. Laufen lernt Resina jedoch erst mit drei Jahren. Auch mit dem Sprechen tut sie sich schwer, aber als sie anfängt zu singen, tut sie das mit einem Können und Wissen, das nicht nur aus ihr selbst zu kommen scheint. 

 

Die Urgroßmutter Minica ist an dem Tag, an dem Resina geboren wurde, ins Meer gegangen und nicht wieder zurück gekommen. Aber sie hat wohl nicht alles mitgenommen hinüber, in die andere Welt.

 

Zwei weitere Kinder werden geboren, Calorio und Ciccina (beide ganz normal im Bett), Gnazio muss nun anbauen. Er setzt auf und neben die würfelförmigen Räume, die bereits bestehen, weitere Würfel, die Fenster immer nur zum Land hin. Auch Ställe, Vorratsräume und Backhaus sind in dieser Form gestaltet.

Das erregt eines Tages die Aufmerksamkeit eines reisenden Amerikaners. Sein Name: Lyonel Feininger. Dieser fotografiert das Gebäude, zeichnet es auch und schreibt Jahre später, dass er seinem Freund Walter Gropius die Fotos gezeigt hätte. Dieser entwickelte auf deren Grundlage einen ganz neuen Baustil. Hier erfahren wir also ganz nebenbei, woher die Bauhaus-Architektur kommt. Entworfen wurde sie von einem Bauern, der weder das Wort "Entwurf", noch das Wort "Architektur" kennt. 

Was für eine schöne Idee!

 

Die Geschehnisse der Zeit gehen nicht an der Familie Manisco vorbei: es entwickelt sich der Faschismus, der Krieg hinterlässt tiefe Spuren auf Sizilien und vernichtet schließlich sogar das Haus der Familie, in dem aber nur noch Maruzza lebte.

Zuvor ist Schreckliches passiert: Cola, der ein gefeierter Wissenschaftler der Sternkunde geworden ist, war auf dem Weg von Amerika nach Italien. Sein Schiff wurde versenkt, niemand überlebte. 

Zu genau diesem Zeitpunkt verschwand auch Resina: sie musste gehen, an einen geheimen Ort im Meer.

An diesen Ort brachte sie ihren Bruder, und so vereinigen sich nicht nur Meer und Erde in Maruzza und Gnazio, sondern auch Meer und Himmel in den Geschwistern.

Dafür gibt es sogar einen Beweis: ein Fischer bringt Gnazio ein Foto, das von Resina und Cola aufgenommen wurde, bevor Cola als junger Mann nach Amerika fuhr. Der Fischer hat es unversehrt und trocken in seinem Boot gefunden, das nach einem Sturm aufs Meer hinaus getrieben worden war...

 

Auf den letzten Seiten wird die Familiengeschichte ganz ordentlich zu Ende erzählt. Was aus den einzelnen Familienmitgliedern geworden ist, wohin sie geheiratet haben, wie Gnazio verstarb, dass Maruzza darauf hin ins Haus der Urgroßmutter übersiedelte und dass ein amerikanischer Soldat die Muschel fand, in die Maruzza immer gesungen hatte. In ihr lauschte er einer Frauenstimme nach - sie klang so, wie er noch nie eine gehört hat und er merkte gar nicht, dass er beim Hören dieser Musik starb.

 

Eine Geschichte voll Musik und Liebe, voller Hingabe und Leben. Eine Geschichte von zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, die zwei unterschiedlichen Sphären entspringen und die doch nie daran zweifeln, dass sie zusammen gehören und am richtigen Platz sind.

Auch wenn sie in einer bestimmten historischen Zeit leben, hat die Zeit sich doch aufgelöst oder sich als genau so mysthisch entpuppt wie die Gesänge der Sirenen, die vor Urzeiten Männer in den sizilianischen Gewässern in die Tiefe lockten.

 

 

 

 

 

Andrea Camilleri: Die Frau aus dem Meer

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn

Kindler, 2011, 160 Seiten

Rowohlt-Tb, 2013, 160 Seiten

(Italienisches Original 2011)

 

 

 

 

Zweiter Teil der Trilogie: "Der Bahnwärter",

der dritte: "Der Hirtenjunge"