Andrea Camilleri - Der Hirtenjunge
Dieser Roman ist der letzte Teil der Trilogie, die mit "Die Frau aus dem Meer" begann.
In jener Geschichte vereinigten sich Erde und Meer, im "Hirtenjungen" sind es Mensch und Tier.
Held dieses nach Art einer antiken Sage erzählten Märchens ist der vierzehnjährige Guirlà, der zusammen mit der jüngeren Schwester und seinen Eltern in einem Fischerdorf an der Küste Siziliens lebt. In Vigàta, wo auch viele andere Helden Camilleris leben. Die Zeit: das beginnende 20. Jahrhundert.
Giurlà bleibt das Schicksal vieler anderer Jungen erspart, er muss nicht in den nahe gelegenen Schwefelminen arbeiten, die die Kinder krank machen. Aber Geld verdienen soll auch er: der exzellente Schwimmer und Taucher, der mit den Händen Fische fangen kann, wird zum Ziegen hüten in die Berge geschickt.
Er lebt sich schnell ein, die Einsamkeit genießt er eher, als dass er darunter leidet, er findet Anerkennung bei den anderen Hirten und dem Aufseher. Nach einer kurzen Zeit, die er wieder bei den Eltern verbringt, fängt er an, sich in die Berge zurückzusehnen, zu den vielen verschiedenen Farben und Gerüchen - das Meer erscheint ihm nun eintönig.
Eine schöne junge Frau, die abends immer zum Ziegen melken kommt, führt ihn in die Freuden der Liebe ein, die er in vollen Zügen genießt.
Und er schließt Freundschaft mit einer Ziege, Beba nennt er sie. Sie erwartet ihn, folgt ihm in seine Hütte, lässt sich gerne von ihm streicheln und geht schließlich so weit, dass sie sich einem Ziegenbock verweigert, Giurlà aber gerne ihr Hinterteil entgegenstreckt.
Die beiden beginnen und pflegen ein Liebesverhältnis - ein solches ist es für den Jungen, der nun schon ein paar Jahre in den Bergen lebt.
Der zweite Teil des Romans widmet sich der Liebesgeschichte: Beba wir immer "kapriziöser", Giurlà sieht im Traum ihre von Liebe erfüllten Augen, er begehrt sie mehr als jemals irgend eine Frau. Und sie verzichtet darauf, ihrer Natur zu folgen und Lämmer zu werfen.
Der dritte Teil bringt eine Veränderung: die Tochter des Marchese, dem das ganze Land und die Herden gehören, kommt in der Sommerfrische täglich an einen See, der nahe an Giurlàs Hütte liegt. Er hat die Aufgabe, auf Anita aufzupassen, vor allem Acht zu geben, dass keiner der Hirten sie baden sieht.
Anita befreundet sich mit der hübschen Beba, nimmt sie auch mit auf das Boot und fährt mit ihr auf den See. Beba lässt sich das alles wohl gefallen, wird aber sofort zur absolut eifersüchtigen Ziege, sobald Anita und Giurlà sich unterhalten oder auch nur beieinander stehen.
Da kommt eines Tages mitten im Sommer ein großer Sturm auf, Anita und Beba sind auf dem See. Giurlà schwimmt hinaus, das Boot kentert, er kann nur eine retten und entscheidet sich instinktiv für Anita. Erst hinterher wird ihm das klar: logisch wäre gewesen, sich für seine "Beinahe-Ehefrau" zu entscheiden. Aber hier siegte wohl die Natur, der Mensch hilft dem Menschen.
Das Märchen findet ein sehr schönes Ende, an dem Giurlà auch weiß, warum Anita hinkt: ihr linker Fuß ist geformt wie der Fuß einer Ziege. Er hat die Gestalt eines Hufes, ist aber aus zartem rosa Fleisch mit dünner Haut ...
Eingebettet ist der Roman in die alten Erzählungen von Göttern, Menschen, Tieren und Verwandlungen.
Eine der Melkerinnen, Ernesta, "erzählte Dinge aus ältesten Zeiten, als die Götter sich und die Menschen ganz nach Lust und Laune in Bäume und Tiere verwandeln konnten, und sie erzälte von einem schönen Mädchen, das in einen Lorbeerbaum verwandelt wurde, und davon, wie ein anderes Mädchen sich in eine Tarantel verwandelte."
Dass Anita ganz am Ende, Beba ist längst tot und unter Giurlàs Schlafstelle begraben, auf seinen Ausruf "Du meine Liebste" mit einem "Määh" antwortet und dabei lacht, gibt der Idee von der großen und großartigen Verwandlungsfähigkeit der Natur noch einmal Nahrung.
Andrea Camilleri: Der Hirtenjunge
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
Kindler, 2013, 208 Seiten
Rowohlt-Tb, 2014, 208 Seiten
(Ital. Originalausgabe 2009)
Erster Teil der Trilogie: "Die Frau aus dem Meer"
Der zweite Teil der Trilogie: "Der Bahnwärter"