Alice Munro - Zu viel Glück

 

 

Es ist nicht gerade besonders originell, Munro jetzt zu lesen oder über sie zu schreiben, nachdem ihr vor einem halben Jahr der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde.

Sie bekam ihn für eine große Anzahl von Kurzgeschichten - Kritiker bemängelten sofort, sie hätte ja nicht einmal einen richtigen Roman zustande gebracht. Stimmt, ein solcher sollte es nicht sein, ihre Form war die reduzierte, nicht inhaltlich aber formell.

Liest man verschiedene Varianten einer Geschichte, sieht man, dass sie an ihrem Stil feilt wie ein Feinmechaniker:

die Sätze werden immer konzentrierter, jedes überflüssige Wort fällt weg. Das gibt ihren Texten eine kristalline Klarheit.

 

Munro hat es gewagt, über ganz unoriginelle (Frauen)Leben zu schreiben. Sinngemäß sagte sie einmal, Männer schrieben über die großen Themen, nähmen sich historische, gesellschaftspolitische oder philosophische Stoffe vor - die Männer lebten ja auch bedeutende Leben.

Die Frauen hingegen bleiben zu Hause, bekommen Kinder, führen den Haushalt, sorgen für Junge und Alte - keine großen Stoffe für große Literatur.

 

Sie selbst lebte ein unspektakuläres Leben: sie ist das älteste von drei Kindern, wuchs auf einer Farm in Kanadas Süden auf, studierte zwei Jahre Journalismus, musste dieses Studium leider wegen Geldmangel aufgeben, heiratete früh, bekam vier Töchter (die zweite starb kurz nach der Geburt), führte einige Jahre zusammen mit ihrem Mann eine Buchhandlung, ließ sich nach zwanzig Jahren scheiden, heiratete vier Jahre später erneut und lebt seit Mitte der 70er Jahre in Clinton, Ontario. 2013 verstarb ihr Ehemann.

 

Sie hatte lange Jahre weder den Raum noch die Zeit, sich ausschließlich mit Schreiben zu beschäftigen. Virginia Woolfs Room of One´s Own, ein Zimmer für sich allein, ein Rückzugsort und Freiraum zur eigenen Verfügung, blieb auch für Munro ein Wunschtraum.

Dieser Umstand trug dazu bei, die Form der Kurzgeschichte zu wählen und - zum Glück für alle Leser - zu großer Kunst zu führen.

 

Die Heldinnen Munros (ich bevorzuge sonst Protagonisten oder Personen, aber hier ist das Wort durchaus angebracht) sind meist Frauen, häufig leben sie in einfachen und unsicheren Verhältnissen. 

Oft beginnen die Geschichten mit einer Fahrt, zumindest einem Gang - Bewegung bedeutet immer Unsicherheit, sie ist kein statischer Zustand.

 

Die ersten Sätze einiger Erzählungen des Bandes "Zu viel Glück" lauten:

"Doree musste drei Busse nehmen - einen nach Kincardine, wo sie auf den Bus nach London wartete, und dort dann noch auf den Nahverkehrsbus zu der Anstalt." (Dimensionen)

"Das Schönste im Winter war die Heimfahrt nach dem Musikunterricht, den sie wöchentlich in der Rough River School gab." (Erzählungen)

"Sally packte gefüllte Eier ein - die sie höchst ungern auf ein Picknick mitnahm, da sie leicht zu einer Ferkelei wurden." (Tieflöcher)

"Am ersten Januar des Jahres 1891 gehen eine kleine Frau und ein großer Mann über den Alten Friedhof in Genua." (Zu viel Glück)

 

Doree, sie ist dreiundzwanzig Jahre alt, besucht ihren Mann in der Anstalt: er hat die drei gemeinsamen Kinder getötet. Er wollte sie davor bewahren in dem Wissen aufzuwachsen, von der Mutter verlassen worden zu sein. Das hatte Doree gar nicht vor, sie hatte lediglich nach einem Streit eine Nacht bei einer Freundin verbracht.  Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass sie eines Tages gegangen wäre, seine Obhut verlassen hätte, denn er wollte alles bestimmen. Den Zustand der Ehe beschreibt Munro in einem einzigen Satz:

"Sie durfte sogar mitlachen, Hauptsache, sie lachte nicht als Erste."

Warum nimmt Doree die mehrstündige Busfahrt auf sich, warum besucht sie ihn überhaupt? Vielleicht um eine Tat zu verstehen, die man nicht verstehen kann? Um mit ihm die Erinnerungen an die Kinder zu teilen? Einzusehen, dass sie durch das, was geschehen ist, "ebenso von allem abgeschnitten ist wie er?"

Er schreibt Doree Briefe und ohne es beabsichtigt zu haben, öffnet er eine Tür in ihrem Inneren, die ihr eine Zuflucht bietet. Er ist ein Tyrann, ein Mörder, aber nicht nur.

Die Geschichte endet damit, dass Doree einem Jungen, der mit seinem Moped in den Bus fuhr, das Leben rettet.

Sie erinnert sich, was Lloyd, ihr Mann, ihr über Erste Hilfe erzählt hatte und wendet es an.

Das ist kein richtiges Ende, keines, das etwas beendet. Es ist ein typisches Munro-Ende, eines, das nichts abschließt.

Ein Farbtupfer neben anderen, ein Aspekt der Geschichte, die weitergeht wie das Leben selbst. Was den Leser zuerst einmal ratlos macht. Wie so vieles im Leben.

 

Eine andere Geschichte, "Holz", handelt von Roy und Lea. Roy ist Möbelrestaurator, der es aber zunehmend liebt, in den Wald zu gehen und Holz zu schlagen. Sein Sinnieren über die Verschiedenartigkeit der Bäume, ihr Aussehen, ihren Duft, ihre "gemütliche Sorglosigkeit" (Ahorn) oder ihr "Unverwechselbares und Dramatisches" (Buchen und Eichen) zeigt, dass Munro auch die Natur sehr eindrucksvoll beschreiben kann.

Lea ist nach einer schweren Bronchitis sehr geschwächt, gibt ihre Arbeit in einer Zahnarztpraxis auf und verfällt in eine Depression, die nicht so genannt, aber medikamentös behandelt wird. 

Sie reagiert nicht mehr auf das, was Roy ihr erzählt, scheint immer abwesend zu sein.

Was Roy große Sorge bereitet ist, dass erzählt wird, eine Firma wolle in großem Stil Holz schlagen und an ein örtliches Unternehmen verkaufen.

Roy würde dann eventuell seine Genehmigung zum Holzfällen verlieren. Als er an einem Wintertag in dem betreffenden Waldstück unterwegs ist, stürzt er und verletzt sich so am Bein, dass er nur noch kriechend zum Auto zurückkehren kann.

Dort drin sitzt absolut unerwartet Lea. Sie hatte den Wagen von der Straße aus gesehen, auf der Rückfahrt von einer Massage.

"Ich bin nur hergekommen, weil ich dir davon erzählen wollte und es gar nicht abwarten konnte. Von der Idee, die ich hatte, als die Frau mich bearbeitet hat." ...

"Es mag ja Quatsch sein...", sagt Roy.

"Ich wusste, dass du das sagst, aber denk mal darüber nach..."

"Es mag ja Quatsch sein, aber ich hatte vor ungefähr fünf Minuten die gleiche Idee."

Und das stimmt. Das kam ihm in den Kopf, als er zu dem Bussard hochsah."

In dieser Sequenz lösen sich mehrere Probleme Leas und Roys. Lösen sich einfach in Luft auf. Auch das gibt es.

 

Munros große Kunst ist es, sich ästhetisch ganz auf das Alltägliche zu konzentrieren und darin das Besondere zu erkennen. Ihre Helden und Heldinnen sind ganz normal, was nicht abwertend gemeint ist, und gleichzeitig sehr individuelle Einzelwesen mit einmaligen Gedanken und Reaktionen.

Diese werden eingefangen in Sätzen, die oft so einfach klingen, so glatt, aber sie sind feingeschliffene Edelsteine.

 

"Aber es ist doch schon etwas, den Tag überstanden zu haben, ohne dass er zur absoluten Katastrophe geriet.

Und die Katastrophe war doch nicht eingetreten?" (aus: Tieflöcher)

Auf die Feststellung folgt sofort die Infragestellung.

Es ist der Abstand, der zwischen einem Picknick und einem tiefen Sturz liegt.

 

"Über kurz oder lang musste sie es (das Arbeitszimmer) betreten. Ihr kam das vor wie ein feindlicher Einmarsch.

Sie würde gegen den toten Geist ihres Mannes zu Felde ziehen müssen." (aus: Freie Radikale)

 

Die letzte Erzählung, "Zu viel Glück", handelt von der Mathematikerin Sofia Kowalewskaja, die als erste Frau überhaupt einen Lehrstuhl für Mathematik innehatte, in Schweden. Sie starb mit einundvierzig Jahren, ihre Lunge war von einer Entzündung völlig zerstört, das Herz krankhaft verändert. Sie hatte von einem Leben als Wissenschaftlerin und der Ehe mit ihrem geliebten Maxim geträumt. Doch das wäre zu viel Glück auf einmal gewesen.

Sie hat Bedeutendes für die Mathematik geleistet -

"Ein Krater auf dem Mond ist nach Sofia benannt worden." Dieser letzte Satz der Geschichte wiegt und trifft wie ein Stein und ist genau so hart wie die ausgesprochene Tatsache.

 

Eine Zusammenfassung der einzelnen Geschichten zu geben ist zugleich einfach und schwierig. Die oberste Ebene lässt sich leicht darstellen, um die tiefere Bedeutung zu erfassen, kommt man ohne Zitate nicht mehr aus.

Das spricht für die Texte, denn das Wesentliche kann nur in die Worte gekleidet werden, die Munro ausgewählt hat.

Jede Umschreibung oder indirekte Wiedergabe wäre ein zu großer Verlust.

 

 

 

 

Alice Munro: Zu viel Glück

Aus dem Englischen von Heidi Zernig

Fischer Verlage, 2011, 368 Seiten

Fischer Taschenbuch, 2013, 368 Seiten                            (Originalausgabe 2010)