Vladimir Nabokov - Verzweiflung
Dieser Roman wurde 1932 in Berlin geschrieben, die heutige Ausgabe ist eine Überarbeitung aus dem Jahr 1965. Im Nachwort zu dieser betont der Verfasser, dass sein Buch keinen "gesellschaftlichen Kommentar" geben und "keine Botschaft zwischen den Zähnen" herbei tragen will.
"Weder richtet es das geistige Organ des Menschen auf, noch zeigt es der Menschheit den rechten Ausweg."
Worum geht es? Kern der Geschichte ist ein Kriminalfall: Mord und Versicherungsbetrug. Ein ähnlicher Fall hat sich 1929 in Berlin ereignet, er ging groß durch die Presse, Nabokov, der zu dieser Zeit in Berlin lebte, hat sicherlich davon gelesen. Und aus den rudimentären Eckdaten seinen Roman verfasst.
Ein etwa dreißigjähriger Mann sucht sich einen Doppelgänger, bringt diesen mit Tricks und Freundlichkeit dazu, seine Kleider anzuziehen (in diesen stecken die Papiere des freundichen Mannes), er fährt mit ihm in ein abgelegenes Waldstück, erschießt sein Opfer hinterrücks und sorgt durch ein auffällig geparktes Auto dafür, dass der Tote gefunden wird. Da die Polizei davon ausgehen wird, dass das Opfer derjenige ist, dessen Name auf den Papieren steht, kann die Witwe die Lebensversicherungsprämie kassieren und mit ihrem "verstorbenen" Mann andernorts ein neues Leben beginnnen.
So der Plan, der natürlich misslingt - in der Realität und im Roman.
Im Roman trifft sich Hermann (der Täter) mehrmals mit Felix, einem Landstreicher, dem er in der Nähe von Prag zufällig begegnete. Hermann ist fasziniert von der Ähnlichkeit mit ihm selbst und in ihm reift der Plan, diese Ähnlichkeit zu nutzen. Er lockt Felix mit Geldversprechungen nach Berlin, dieser glaubt schließlich als Double an einem Filmprojekt mitzuwirken und zieht deshalb bereitwillig Hermanns Kleider an.
Nach dem Mord setzt sich Hermann nach Südfrankreich ab. Die Polizei hat sehr schnell festgestellt, dass dieser nicht der Tote, sondern der Mörder ist - das erfährt Hermann aus der Zeitung. Er flieht, wird aber in einem kleinen Dorf gefunden.
Erst hier, ganz am Ende, denkt er zum ersten Mal darüber nach, was er getan hat - Verzweiflung macht sich in ihm breit.
Die ganze Geschichte ist aus der Sichtweise Hermanns erzählt, der kein "böser" Mensch ist, kein Mörder durch und durch - so wenig das Buch ein Krimi ist.
Hermann hält sich für weitaus klüger als er ist, er ist bemerkenswert ignorant, geradezu blind anderen Menschen gegenüber, er bastelt sich seine eigene Realität zusammen.
Und genau davon handelt der Roman: Wie wird Realität konstruiert?
Nabokov gibt sich nicht damit zufrieden, dass eine Romanfigur dies und jenes tut oder lässt, er reflektiert als Autor permanent den Prozess des Geschichten-Schreibens.
Hermann beschäftigt sich ständig mit Ähnlichkeiten, Spiegelungen, Masken, Verdopplungen und Wiederholungen. Bilder meint er an anderen Orten schon gesehen zu haben, er meint ein bestimmtes Haus in einem Dorf bei Berlin sei das genaue Gegenstück zu einem Gebäude aus einem Dorf bei St. Petersburg, in einem Trödlerladen findet er Anzüge von verstorbenen Bekannten, sogar die Straßenlaterne vor seinem Haus in Berlin hat dieselbe Nummer wie die damals vor seinem Haus in Moskau und so weiter. So war Hermann auch der Einzige, der die frappierende Ähnlichkeit mit Felix sehen konnte.
Die Erzählstimme des Romans richtet das Wort häufig direkt an den Leser: er fragt, wie er ein Kapitel beginnen soll, macht ein paar Vorschläge, entscheidet sich für einen davon und macht damit klar, dass es in seiner Macht steht, wohin die Reise geht.
Von Frankreich aus lässt Nabokov Hermann zurückblicken auf die Vergangenheit, in seinem Traum ist alles nach Plan verlaufen und für ihn gut ausgegangen:
"Wir sind jetzt verheiratet, ich und meine kleine Witwe; wir leben in einem ruhigen, malerischen Ort, im eigenen Häuschen."
Weiter hinten schreibt er:
"Spüren Sie den Beigeschmack dieses Epilogs? Ich habe ihn nach einem klassischen Rezept zusammengebraut. Von jeder Figur im Buch wird irgend etwas erzählt, um die Geschichte zu einem Abschluss zu bringen; dabei sorgt man dafür, dass das Getröpfel ihrer Existenz einwandfrei, wenn auch summarisch, in Einklag bleibt mit dem, was vorher von ihren jeweiligen Eigenheiten gezeigt wurde; auch ein spaßhafter Ton ist gestattet - sich verstohlen lustig zu machen über den Konservativismus des Lebens."
Ätsch, lieber Leser, auch Du wurdest an der Nase herumgeführt und hast deine konservativen Erwartungen an Literatur um die Ohren bekommen. Sofern Du die Geschichte mit dem Häuschen im Grünen geglaubt hast.
Nabokov macht das Erzählen zum Thema der Erzählung, aber die Handlung wird darüber nicht zum Nebenprodukt, sie ist spannend und unterhaltsam.
Er schreibt sehr anschaulich, mit Zeitsprüngen, hat sich aber nicht vorgenommen, den Leser zu verwirren und sich dadurch interessant zu machen.
Kommentar, Botschaft, Ausweg: dies will das Buch nicht sein, nicht zeigen.
Viel zu viel Augenzwinkern ist in dem Roman, dessen Autor nicht der Versuchung so vieler Schriftsteller erlegen ist,
den Figuren eigene Gedanken in den Kopf zu legen und so seine Botschaft zu transportieren. Womit sie ihre Figuren zu Papiertigern machen.
Ein wahrlich starkes Buch, das auch bei mehrmaliger Lektüre nicht langweilig wird. Im Gegenteil.
Vladimir Nabokov: Verzweiflung
Aus dem Englischen von Klaus Birkenhauer
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Neuausgabe 2001, 206 Seiten
(Erstveröffentlichung 1932, Überarbeitete Fassung 1965)