Toni Morrison - Menschenkind

 

 

Toni Morrison (geb. 1931) zählt zu den wichtigsten amerikanischen Autoren, 1993 bekam sie den Literatur-Nobelpreis.

Ihre Romane vereinigen die westliche Erzählweise mit der afroamerikanischen Tradition der mündlichen Literatur. 

"Menschenkind", im Original "Beloved" (1987) erschien 1989 auf Deutsch. Schon mit zuvor veröffentlichten Büchern hatte sich die Autorin international einen Namen gemacht, denn ihre Romane gefielen den Kritikern genauso wie den Lesern.

 

Die Geschichte um Menschenkind setzt ein im Jahr 1885 in Cincinnati, Ohio.

Paul D, ein ehemaliger Sklave kommt ins Haus Sethes, die er schon seit ihrem 14. Lebensjahr kennt.

Bis zu ihrem Fluchtversuch mehr als 20 Jahr zuvor lebten sie gemeinsam mit 4 weiteren Männern auf der Sweet Home Farm. Die Flucht ist damals nur der schwangeren Sethe geglückt, was an ein Wunder grenzt. Sethes Mann Halle gelang sie nicht, ebensowenig den anderen männlichen Sklaven.

Sethe schaffte es bis zu ihrer Schwiegermutter Baby Suggs, die von Halle durch Mehrarbeit freigekauft worden war und wo die 3 älteren Kinder Sethes und Halles bereits auf die Eltern warten. Auf einem Wagen wurden sie vorausgeschickt und leben nun bei der Großmutter in Freiheit.

 

Mit der Hilfe eines Weißenmädchens hat Sethe unterwegs ihre Tocher Denver zur Welt gebracht, mehr tot als lebendig kommt sie bei Baby Suggs an. Diese hat den Ruf einer Heiligen, sie hält Gottesdienste im Wald, ist eine angesehene Frau und Ratgeberin der Schwarzengemeinde. Baby Suggs pflegt Sethe gesund. Achutundzwanzig Tage kann sie umsorgt und getragen in ihrem Haus leben und wieder zu Kräften kommen. Dann passiert das Gefürchtete: der Besitzer Sethes und ihrer Kinder hat sie aufgespürt, zusammen mit drei anderen Männern kommt er, um sein Eigentum (eine Mutter und vier Kinder sind ein wertvoller Besitz) zurückzuholen.

 

Sethe sieht die Männer kommen, schnappt sich ihre Kinder, rennt in den Holzschuppen, und um sie zu schützen und vor einem Leben in der Sklaverei zu bewahren, will sie sie töten.

 

Als Paul D zwanzig Jahre nach diesem Vorfall zu Sethe kommt, leben nur noch Sethe und Denver in dem

Haus Nr. 124, ehemals Wegestation und offenes Haus für alle Besucher. Diese gibt es längst nicht mehr. Sethe und Denver bleiben ganz für sich allein, Kontakt zur Gemeinde pflegen sie keinen, nachdem es bei der Beerdigung von Baby Suggs zum endgültigen Bruch kam.

 

Es gibt noch eine Art Mitbewohner: ein Geist geht um im Haus, kein freundlicher, aber einer, an den die beiden Frauen sich gewöhnt haben. Paul D, der eine aufrichtige Zuneigung zu Sethe empfindet und bleiben möchte, vertreibt diesen Geist.

Plötzlich ist es still im Haus, ruhig. Wie eine echte Familie (was an sich schon ein Luxus ist, für Menschen die willkürlich hin-und hergeschoben werden) gehen Sethe, Paul D und Denver kurz darauf zu einem Dorffest. Als sie zurückkommen finden sie eine junge Frau bei einer Brücke, nah am Haus. Sie weiß selbst nicht, wo sie herkommt, findet aber Aufnahme im Haus. Menschenkind ist ihr Name, sie ist nur zwei Jahre älter als Denver, die glücklich ist, nicht mehr ständig alleine zu sein.

 

Für alle ist klar: diese junge Frau muss Sethes Tocher sein. Sie ist zurückgekommen.

Es entwickeln sich nun ganz spezielle Verhältnisse zwischen den vier Menschen, die sich im Lauf der Zeit wandeln oder umkehren und die im Grunde Machtkämpfe sind. Oder Kämpfe um Verständnis.

 

Und das ist der eigentliche Inhalt des Buches: Was macht die Sklaverei aus den Menschen?

Ist es ein Luxus, sich eine Vergangenheit zu leisten, an die man sich erinnern kann, will oder darf? 

Oder muss man die Erinnerungen wie Paul D in eine innere "Tabakdose" stecken, die niemals geöffnet werden darf, denn kein Mensch kann mit solchen Erinnerungen leben?

Sethe hat es geschafft, jahrelang, sie zahlte den Preis der Einsamkeit und das Leben mit einem Geist dafür, ihre Vergangenheit so weit als möglich ruhen zu lassen.

 

Als Paul D den Geist vertrieben hatte und ihr einen Teil der Verantwortung für ihr Leben abnehmen wollte, brachte das Gedanken und Gefühle hervor, die zu viel sind, die man nicht aushalten kann.

 

Morrison erzählt etwas verschlungen, die skizzierte Geschichte erschließt sich durch Zusammensetzen von Erinnerungen, Gesprächen und Beschreibungen, die nicht chronologisch angeordnet sind.

Man liest in eigenen Kapiteln die Gedanken der jeweiligen Personen und erfährt so nach und nach die Geschehnisse. Und auch die Träume und Albträume.

 

Und das ist manchmal kaum auszuhalten. 

 

Alle, die in der Barbarei der Skaverei leben mussten, werden niemals frei davon werden. Nicht die entlassenen Sklaven, nicht die entlaufenen, nicht ihre Kinder.

Die Geister der Vergangenheit sind mächtig, die Welt entwickelt sich langsam.

 

Der Roman fußt auf einer wahren Begebenheit, der Geschichte Margaret Garners. Doch er hat die Ausmaße einer antiken Tragödie, die von Toni Morrison mit psychologischer Einfühlsamkeit erzählt wird.

 

Zum Schluss möchte ich noch einen Satz zitieren, der für mich eine Art Kernaussage darstellt:

"Er wusste genau, was sie meinte: an einen Ort zu kommen, wo man lieben konnte, was immer man wollte; keine Erlaubnis für die Sehnsucht zu brauchen - ja, wahrhaftig, das war Freiheit."

Darüber sollte man nachdenken.

 

 

 

 

 

 

Toni Morrison: Menschenkind

Aus dem Amerikanischen von Helga Pfetsch und

Thomas Piltz

Rowohlt Tb, 2012, 397 Seiten

(Originalausgabe 1987)