Peter Stamm - Agnes

 

 

"Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet. Nichts ist mir von ihr geblieben als diese Geschichte. Sie beginnt an jenem Tag vor neun Monaten, als wir uns in der Chicago Public Library zum ersten Mal trafen."

 

So beginnt das Buch "Agnes".

Das Ende steht im ersten Satz.

Die Frage nach dem Wie im zweiten. Das Warum ist der Roman von Peter Stamm, der diesen Text in der Ich-Form geschrieben hat. 

 

Der Ich-Erzähler ist Schriftsteller, der sich nach einigen Kurzgeschichten dem Schreiben von Sachbüchern zugewandt hat. Wie der Autor ist er Schweizer, der für ein Buchprojekt in die Vereinigten Staaten gezogen ist, um dort recherchieren zu können. Und eben dabei die 25jährige Doktorandin Agnes kennenlernt.

 

Man kennt die Aussagen "Das Leben schreibt die aufregendsten Geschichten", "Das ist ja wie im Roman" etc., hier aber ist es umgekehrt: die Geschichte schreibt das Leben (vor).

 

Nach der ersten Begegnung in der Bibliothek treffen sich Agnes und der Ich-Erzähler zufällig draußen bei einem Kaffee und einer Zigarette. Sie wechseln ein paar Worte, sind sich sympathisch, begegnen sich in der folgenden Zeit wieder, nach ein paar Wochen gehen sie zusammen essen.

Die Nacht darauf verbringen sie zusammen in seiner Wohnung. Er lernt ein paar Eigenheiten von ihr kennen, sie erzählt auch ein bisschen aus ihrem Leben, ihrer Kindheit. Dass sie an ihrer Doktorarbeit in Physik schreibt, wusste er bereits, nun erfährt er etwas über ihr Verhältnis zu Gott, ihre Eltern (ein schwieriges Thema), über ihre Haltung zum Tod und Sterben.

 

Man erfährt nicht viel von oder über Agnes. Sie ist klein, schmal, dunkelhaarig, unauffällig. Sie spricht nicht viel. 

Wie wenig man Agnes wirklich kennt wird deutlich in der Szene, in der der Erzähler mit dem Zug nach New York fährt und seinen Platz zufällig neben einer sehr dicken Frau hat, die auch noch stark nach Schweiß riecht. Sie erzählt ihm, dass sie zu ihrem Brief-Liebhaber fährt, zeigt ihm auch Briefe und ist körperlich und charakterlich so aufdringlich und distanzlos, dass Agnes noch schmaler und schweigsamer erscheint.

 

Eines Tages schreibt Agnes eine Kurzgeschichte. Erwartungsvoll zeigt Agnes ihrem Freund diesen Text. Warum auch immer - vielleicht Eifersucht? - kann er ihr nicht sagen, dass er die Geschichte gut findet. Agnes spürt die Verstimmung und löscht sie einfach. Klick und weg.

Sie fragt sich und ihn, warum er nicht mehr schreibt (bzw. nur noch Sachbücher) und bittet ihn, eine Geschichte über sie zu schreiben.

"Es gibt kein einziges gutes Bild von mir. Auf dem man mich sieht, wie ich bin. ... Schreib eine Geschichte über mich, damit ich weiß, was du von mir hältst."

 

Er fängt tatsächlich damit an. Er beginnt mit dem aktuellen Datum und schreibt nieder, was sie getan haben.

"Am Abend des dritten Juli gingen wir auf die Dachterrasse und schauten uns gemeinsam das Feuerwerk an."

 

Im Folgenden schreibt er über das erste Zusammentreffen, das, was sie machten. Aber Agnes hat eine konkrete Vorstellung davon, was sie in der Geschichte drin haben möchte und was nicht. So soll beispielsweise ihre Kindheit außen vor bleiben, sie möchte keine Rückblicke.

Es ist für beide interessant zu lesen, wie er gemeinsam Erlebtes beschreibt, manchmal hat jeder eine ganz andere Erinnerung daran. Das intensiviert ihre Kommunikation.

 

Dann kommt der Tag, an dem er die Gegenwart erreicht hat.

"Wenige Tage nach unserem Ausflug an den See stieß ich in der Geschichte in die Zukunft vor. Jetzt war Agnes mein Geschöpf. Ich fühlte, wie die neugewonnene Freiheit meine Phantasie beflügelte. Ich plante ihre Zukunft, wie ein Vater die Zukunft seiner Tochter plant."

 

Die ist der Wendepunkt im Roman. Nun kommt nicht mehr das Leben auf die Beiden zu, sondern die Geschichte. Nicht "es" geschieht mehr, sondern er lässt es passieren.

Der Erzähler wird zum Herr über das Leben seiner Figur, die ja eigentlich seine Freundin ist, mit der er bald zusammenziehen wird. Dass dies geschieht, steht schon in der Geschichte, Agnes muss diesen Akt nur noch nachvollziehen.

 

Alles, was er sich vorstellt, wird lebendig. Er meint, alle ihre Gefühle zu erraten. Weiß zwar gleichzeitig noch, dass die Sätze, die er schreibt, zu einer Traumfigur gehören, aber Fiktion und Realität laufen ineinander über.

 

Da passiert im "richtigen" Leben etwas, das nicht in der Geschichte vorgesehen war und das die Beziehung aus der Bahn wirft.

Agnes zieht sich zurück, nachdem sie sich völlig verlassen gefühlt hat. 

Später kommen sie wieder zusammen, Agnes zieht erneut bei ihm ein. Und bittet ihn, weiterhin alles aufzuschreiben, "schreib die Geschichte weiter und schreib alles auf, was geschehen ist."

 

Das hat er schon getan. Alles, was nicht in der Geschichte ist, kommt ihm "unwirklich" vor, als sei das Leben selbst Zeitverschwendung.

 

Dann schreibt der Erzähler heimlich einen Schluss.

Als er kurz darauf spät abends nach Hause kommt, ist der Computer noch an. Neben ihm steht ein Teller mit einem nicht aufgegessenen Sandwich. Agnes scheint das Ende der Geschichte gelesen zu haben.

Sie ist nicht da, ihr Mantel auch nicht.

 

"Agnes ist nicht zurückgekommen." 

 

Der Erzähler scheiterte als Schriftsteller.

Und als Freund und Partner.

Und im Grunde ist es gar nicht so sicher, dass Agnes tatsächlich tot ist, wie es im ersten Satz steht. 

 

Vielleicht hat sie sich einfach nur die Freiheit genommen, aus der vorgeschriebenen Geschichte auszusteigen, weil das Bild, das er sich von ihr gemacht hatte, nicht (mehr) passte?

Vielleicht wollte sie einen anderen, einen eigenen Schluss finden?

Für den Erzähler ist sie weg, nicht zurückgekommen.

Aber was heißt das schon?

 

 

 

 

 

 

Peter Stamm: Agnes

Fischer Taschenbuch, 2013, 153 Seiten

Originalausgabe: Arche Verlag, 1998