Margriet de Moor - Erst grau dann weiß dann blau
Magda leistet sich etwas Ungeheuerliches: sie verschwindet für zwei Jahre einfach aus ihrem bisherigen Leben. Sie lässt ihren Mann, einen erfolgreichen Unternehmer, das geschmackvolle Haus und ihre Arbeit als Übersetzerin zurück.
Doch dieses Verschwinden ist nicht einmal der eigentliche Skandal. Das Schlimmste für alle Zurückgebliebenen, egal ob Ehemann, Freundin, die Leute im Dorf ist die Tatsache, dass Magda auch nach ihrer unerwarteten Rückkehr kein Wort darüber verliert, wo sie gewesen ist. Und das nimmt man ihr übel.
Sie wird schief angeschaut, schließlich gemieden (was sie überhaupt nicht tangiert), ihre Freundin Nellie bemerkt, dass sie ihr gerne mal einen Schlag in die Magengrube versetzten würde. Magdas Mann Robert hält die Situation eines Tages nicht mehr aus und dreht durch.
Er ersticht Magda mit einem Dolch. Sein Versuch, sich danach selbst die Pulsadern zu öffnen ist eher melodramatischer Art, er verletzt sich nicht ernsthaft.
Dieser Roman der niederländischen Schriftstellerin erschien 1993 (im Original zwei Jahre früher).
Damals hatte sich das Privatfernsehen gerade etabliert, die Talkshow war erst aufgekommen. Im Lauf der 90er Jahre entwickelte sie sich zum beliebten Nachmittagsvergnügen, später kamen dann die Late-night-shows dazu. Heute sind sie allgegenwärtig und werden vom Reality-TV haushoch überflügelt, bietet dies doch ganz andere Authentizität. Social media war noch nicht geboren, sprich: die Welt war wesentlich kleiner und privater.
Schon aus diesen Gründen lohnt sich die Lektüre des Buches. Es stehen Sätze darin wie "Was nicht erzählt wird, gibt es nicht...", "Wir sind es gewohnt, uns alles zu erzählen. Dies ist eine offenherzige Zeit. Dies ist die Zeit der Autobiographie", "Sprechen ist nicht enthüllen, was man weiß, sondern was man bedeuten möchte" oder "Du lässt deinen Gedanken freien Lauf. Du betrügst mich!"
Gegliedert ist der Roman in vier Teile.
Im ersten erfahren wir die Geschichte "danach", Magdas Rückkehr und ihre Ermordung.
Der zweiteTeil ist Robert gewidmet. Das Kapitel fängt damit an, dass er Magdas Abwesenheit entdeckt, dann wird rückwärts gehend Roberts Leben erzählt.
Genau so verfährt de Moor im dritten Teil, der von Magda handelt.
Magda reist an die Orte, an welchen sie lebte. Als sie schon mit Robert verheiratet war, als sie sich kennenlernten.Sie fährt nach Kanada, wo sie ihre Jugend mit der Mutter verbrachte und nach Berlin und Tschechien (wo der Vater von den Nazis "abgeholt" worden war).
Magda reist rückwärts durch ihr Leben in diesen zwei Jahren und sucht alle Plätze noch einmal auf. Lebt dort eine Zeit lang und zieht weiter. Ohne schlechtes Gewissen, ohne Rechtfertigung.
Der vierte Teil beschreibt den Tag ihrer Beerdigung.
Nellie erinnert sich an die vergangene Zeit, an die gemeinsamen Erlebnisse, an die Bedeutung, die Magda für ihren Sohn Gabriel hatte. Gabriel ist zu diesem Zeitpunkt Anfang zwanzig. Er leidet an einer Art Autismus, Magda hatte jedoch einen Draht zu ihm gefunden, oft betrachteten sie gemeinsam die Sterne.
Auf diesem Gebiet ist Gabriel Experte. Gabriels Leben ist dann auch das einzige, das von der Geburt ausgehend in die Gegenwart hinein erzählt wird. Ausgerechnet das Leben dieses schweigsamen Menschen, für den weder Raum noch Zeit irgendeine Bedeutung haben, der in der Ewigkeit der Sterne lebt.
De Moor spielt in diesem Roman den Gedanken durch, wann ein Geschehnis zur Realtiät wird.
Wann ist es wahr und für wen? Muss darüber gesprochen worden sein?
"Wen wird es stören, dass ich zwischendurch auf eine Landschaft schaue, die niemand außer mir kennt, und mir Dinge ins Gedächtnis rufe, an die zu denken angenehm ist, stolze, barbarische, persönliche Dinge, die ich nie, mit wem auch immer, teilen können werde..."
Und doch kehrt Magda zurück, so als wäre sie nur kurz auf einem anderen Stern gewesen, und alles, was sie dort gesehen hat, war vorher schon in ihr...
Margriet de Moor:
Erst grau dann weiß dann blau
dtv, 2012
(Originalausgabe 1991)