Leo Perutz - Nachts unter der steinernen Brücke
Prag, ausgehendes 16., beginnendes 17. Jahrhundert, es regiert Rudolf II (König von Böhmen 1576-1611), die historische Judenstadt ist noch nicht saniert (dies geschieht zwischen 1896 und 1902), es lebt eine unüberschaubare Menge von Menschen in dieser Stadt, die ständig von Hunger und Seuchen bedroht ist.
Der Roman besteht aus 14 Novellen, plus einem Epilog.
Jede Novelle ist eine Geschichte für sich, zusammengefügt zu einem Roman werden sie durch drei Personen: Rudolf II, Mordechai Meisl, dessen Frau Esther. Außerdem drei Themen, die auch die verschieden Personen miteinander verbinden: die Liebe, die Kunst und das Geld.
Rudolf II sah bei einem Gang durch die Stadt eine schöne junge Frau, er verliebte sich sofort in sie und ging ihr nach. Da er sie selbst nicht mehr finden konnte, erkundigte er sich nach ihr und erfuhr, dass sie eine ehrbare, verheiratete, jüdische Frau sei, die sich niemals mit ihm treffen würde. Daraufhin drohte er, alle Juden aus der Stadt zu vertreiben, denn er wollte keine andere Frau haben als Esther.
Der hohe Rabbi Loew musste handeln: er pflanzte einen Rosenstock und einen Rosmarin unter die steinerne Brücke, erwirkte einen Zauber und diese beiden Pflanzen standen nun sinnbildlich für den König und seine Geliebte. Jede Nacht trafen sich die Traumgeliebten dort, die wirklichen Menschen wussten nur unbewusst von diesen Treffen, manchmal äußerte sich eine Ahnung durch einen Seufzer im Schlaf, einen verschatteten Blick beim Aufwachen.
Dass seine Frau einen anderen liebte, ahnte Mordechai Meisl erst, als sie überraschend und immer noch sehr jung verstarb, denn ihr letztes Wort war der Name Rudolf.
Der hatte nun seine Geliebte verloren und verlegte all seine Aufmerksamkeit auf den Erwerb von Kunststücken. In ganz Europa ließ er bedeutende Kunstwerke aufkaufen, er gab viel mehr Geld dafür aus, als er hatte. Schulden wurden nicht beglichen, Alchimisten wurden beauftragt Gold herzustellen, es reichte nie.
Nur ein Mann in Prag war sagenhaft reich: Mordechai Meisl. Dieser wurde zum Geldgeber Rudolfs, er finanzierte seine Kunst. Er gab sein Geld, im Gegenzug bekam er Privilegien, die andere Juden nicht hatten und so entwickelte sich ein Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeiten, in dem es im Grunde um die verstorbene Esther ging.
Das ist in groben Zügen die Geschichte, die erzählt wird. Verstehen kann man sie erst, wenn man das Buch ganz zu Ende gelesen hat, denn erst im Rückblick lassen sich die Teile der einzelnen Novellen zusammenfügen.
Das Besondere ist, dass die Novellen eine Bedeutung für sich haben, die oftmals eine andere ist, als sie im Gesamtzusammenhang bekommen.
Hochinteressant ist der Aufbau und die innere Verzahnung der "Einzelteile". Dies erfordert große Aufmerksamkeit vom Leser.
So taucht beispielsweise in einer Novelle Wallenstein auf,
in einer anderen trifft der Blitz der Selbsterkenntnis einen unbarmherzigen Adeligen, in einer dritten fangen zwei Hunde, die zusammen mit einem armen Hungerleider hingerichtet werden sollen, an, miteinander zu sprechen - sie politisieren. So wirft jede Novelle ein eigenes Licht auf die historische und die geistige Welt des damaligen Prag.
Perutz hält sich nicht immer an die historischen Fakten,
er gesteht dem Dichter zu, einen anderen Blick auf die Geschichte zu werfen, als der Historiker.
Aber natürlich ist er ein Kenner der Historie und er hat die jüdischen Legenden studiert.
Von den Quellen abgeschnitten wurde er durch seine Emigration nach Palästina.
Leo Perutz wurde 1882 in Prag geboren. 1901 zog die Familie nach Wien, dort besuchte Perutz die Hochschule als außerordentlicher Hörer, denn er hatte kein Abitur.
Ab 1907 war er als Versicherungsmathematiker tätig, für ein Jahr in Triest, dann bis 1923 in Wien.
1915 erschien sein erster Roman "Die dritte Kugel", der auch gleich ziemlich erfolgreich war. Er verkehrte in literarischen Zirkeln und unternahm weite Reisen.
Bis 1928 veröffentlichte er neben Rezensionen, Erzählungen und Drehbüchern sechs Romane, der letzte "Wohin rollst du, Äpfelchen" machte ihn Millionen Lesern bekannt. Als seine Frau im selben Jahr verstarb, stürzte er in eine tiefe Krise.
Sieben Jahre später heiratete er wieder und 1938, nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland, emigrierte er.
Damit war er vom literarischen Leben, von der Welt des alten Europa, dem Quellenmaterial und von seiner Muttersprache abgeschnitten. In den folgenden Jahren schrieb er sehr wenig.
1950 kehrte er nach Österreich zurück, nahm 2 Jahre später auch die Staatsbürgerschaft wieder an, konnte jedoch kaum mehr verlegen. Der immer noch vorhandene Antisemitismus ließ dies nicht zu, und so erschien "Nachts unter der steinernen Brücke" erst im Jahre 1953, der Roman wurde aber nicht mehr vertrieben, da der Verlag kurz darauf in Konkurs ging. Perutz´ letzer Roman erschien erst nach seinem Tod im Jahr 1957.
Aufgrund der Lebensumstände arbeitete Perutz von 1924-51 an "Nachts unter der steinernen Brücke".
Der Aufbau ist wie angedeutet ästhetisch unglaublich interessant durchkomponiert und einzigartig in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Leser ist stark gefordert, er hat nur dann etwas von diesem Text, wenn er selbst an seiner Erschließung mitarbeitet.
Für diese Mühe wird er aber reichlich belohnt.
Am besten, man liest den Roman gleich zwei Mal hintereinander.
Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke
dtv, 2002, 267 Seiten
(Originalausgabe 1953)