Graciliano Ramos - Kindheit

 

 

Dieser Roman, der zu den bedeutendsten der brasilianischen Literatur gehört, liegt nun erstmals auf Deutsch vor. Erschienen ist er schon im Jahr 1945.

In dem autobiographischen Werk schildert der Autor (1892-1953) seine sehr unglückliche Kindheit im kargen Nordosten Brasiliens. 

Der Leser lernt ein rückständiges, von Diktatoren regiertes, korruptes Land zur Zeit der Jahrhundertwende kennen.

 

Hier gleich eine kleine Leseprobe:

"...damals hatte ein Chef der Regierungspartei in der Provinz mehr Macht als ein afrikanischer Stammesfürst, er verfügte über die Leute und manipulierte die Obrigkeit, armselige Marionetten. Wir lebten auf einer großen Zuckerrohrplantage, und nur wer dem Gutsherrn nach dem Mund redete, blieb unbehelligt. Die Zeitungen in der Hauptstadt berichteten Schreckliches, doch niemand wagte Anklage zu erheben. Wer auch nur ein Wort verlauten ließ, musste mit Brandstiftung rechnen, Prügel, Gefängnis oder Tod."

Ramos weiß, wovon er spricht, er selbst saß wegen seiner politischen Überzeugungen in Haft.

 

So deutlich wie hier äußert sich Ramos in seinem Roman selten über Politik - er beschreibt seine Vita bis zu seinem elften Lebensjahr, da sind andere Dinge im Vordergrund.

 

Zunächst die Eltern: der Vater stammt aus einer Bauernfamilie, betreibt selbst auch Landwirtschaft.

Er gibt dies eines Tages auf, um ein Handelsgeschäft zu eröffnen. Er verkauft Dinge des täglichen Bedarfs, mit wenig Erfolg. Sein Leben ist ein einziger Kampf gegen den Abstieg, den er aber nicht aufhalten kann.

Die Mutter ist gerade mal fünfzehn Jahre älter als Graciliano. Das harte Leben hat sie ebenfalls hart gemacht, böse.

 

Das Verhältnis zu den Eltern ist bestimmt von Angst und Schrecken. Nie weiß das Kind wann es die nächsten Schläge bekommt, es weiß nur, dass sie kommen. Es erlebt seine absolute Ohnmacht, denn es wird nicht "nur" geschlagen, es wird auch beleidigt. Und hält sich selbst für außerordentlich dumm und ganz und gar wertlos.

Beide Eltern geben ihm weder Halt noch Orientierung - sie selbst scheinen keine zu haben.

 

Aufgrund der schlecht gehenden Geschäfte zieht die Familie ständig um, fast führen sie ein Wanderarbeiterleben. Überall eröffnet der Vater ein neues Geschäft, immer kleiner, in immer noch kleineren Städten.

 

Die bedeutet, dass auch die Schulen, die Graciliano ab seinem sechsten Lebensjahr besucht, immer schlechter werden. Die Lehrer (mitunter ein Lehrer für achtzig Kinder) wissen kaum mehr als ihre Schüler, sie arbeiten nicht mit Pädagogik, sondern mit der Handklatsche. Das ist ein Folterinstrument, mit dem sich Handgelenke zertrümmern lassen.

 

Obwohl ihn Geschichten faszinieren, tut sich Graciliano unheimlich schwer mit dem Lesen.

Zuerst versucht der Vater, ihm die Buchstaben beizubringen. Ohne Erfolg. Nur einmal hat er eine gute und liebe Lehrerin, bei ihr lernt er besser, aber nach kurzer Zeit zieht die Familie weiter und diese Lehrerin ist Geschichte. Und das mühsame Herumstochern geht weiter.

Erkennt er einen Buchstaben, gelingt es ihm, ein Wort zu erkennen, heißt das aber noch nicht, dass er es versteht, denn Graciliano hat einen sehr begrenzten Wortschatz.

Die Schulfibeln sind nicht geeignet, manchmal hat er nur irgend einen Roman zur Hand, von dem er nichts versteht. Und doch: er wittert eine verborgene Welt in den geschriebenen Worten, in die er eindringen möchte.

 

Wie ein Geschenk des Himmels erscheint da Jeronimo Barreto, ein Jurist, der eine große Bibliothek besitzt. Und diese öffnet er dem Kind, als es ihn darum bittet - was viel Mut erforderte und zeigt, wie groß das Verlangen war.

Barreto lässt ihn "unterschiedlichste Wege beschreiten", er gibt ihm ganz verschiedene Bücher.

 

Für die Schule ist Graciliano nun vollends verloren. Sie interessiert ihn überhaupt nicht mehr, er taucht ab in die Welt der Literatur, wann immer ihm dies möglich ist. 

 

"Die Wirklichkeit entfernte und verformte sich zunehmend, Bekannte und Vorübergehende nahmen die Eigenschaften der Gestalten aus meinem Fortsetzungsroman an. Ich vernachlässigte meine Schulaufgaben und die Pflichten, die man mir im Laden auferlegte. ... Die einzig wirkliche, mir nahe Person war Jeronimo Barreto, der mich mit Träumen versorgte..."

 

Doch oft genug reißt ihn die Wirklichkeit aus seinen Träumen, man denke nicht, die Eltern hätten einen Träumer geduldet. 

 

Ramos beschreibt die Eltern und andere Peiniger sachlich, ohne Anklage. Als schlichte Tatsachen. Als die Realität, in der er als Kind lebte.

Er versteht als Erwachsener die Hintergründe, die die Eltern so werden ließen, wie sie waren.

So wenig er anklagt, so wenig entschuldigt er sie.

 

"Noch heute glaube ich, dass meine wenigen Erfolge und zahlreichen Niederlagen Werk eines ironischen, abgefeimten, verwirrend listenreichen Schicksals sind.

Ich fand mich damit ab, zusammengekauert neben dem Ladentisch und dadurch vorübergehend in Sicherheit. Es stand geschrieben, war Gottes Wille".

(Den letzten Satz hörte er oft von Erwachsenen).

 

Ramos formuliert sehr präzise, wohlüberlegt, schnörkellos. Er erreicht damit eine große Dichte und Eindringlichkeit. Das Kind Graciliano ist ein genauer Beobachter, auch wenn es sagt, es hätte den Bezug zur Wirklichkeit verloren.

 

 

 

 

Graciliano Ramos: Kindheit

Übersetzt von Inés Koebel

Wagenbach Verlag, 2013, 256 Seiten

(Originalausgabe 1945)