Elias Canetti - Die Stimmen von Marrakesch
Canetti ist ein Mensch, der zwischen verschiedenen Sprachen aufwuchs, in ihnen lebte und lernte, die Töne und Zwischentöne ihrer Melodien wahrzunehmen. Seine Muttersprache war Ladino (auch "Judenspanisch" genannt), das in der Familie gesprochen wurde. Diese war eine spanischstämmige Kaufmannsfamilie, die über die Türkei nach Bulgarien eingewandert war. Außerhalb des Hauses wurde also Bulgarisch gesprochen, die Intimsprache der Eltern war aber Deutsch. Dieses sprachen sie immer, wenn die drei Kinder nicht verstehen sollten, worüber sie sich unterhielten.
1911, Elias war sechs Jahre alt, siedelte die Familie nach Manchester über, dort erhoffte sich der Vater bessere Geschäftsbedingungen. Die Kinder lernten Englisch und ein wenig Französisch. Im Oktober 1912 verstarb der junge Vater völlig unerwartet, noch im selben Jahr zog die Mutter mit ihren drei Söhnen nach Wien.
Hier erwies sie sich als unerbittliche Lehrerin: ohne jedes pädagogische Einfühlungsvermögen oder Geschick mussten die Kinder in kürzester Zeit Deutsch lernen. Wie dieser Unterricht ablief, welche Qual er war, beschreibt Canetti sehr eindrücklich in seinen Lebenserinnerungen ("Die gerettete Zunge", 1905-21). Und doch wurde Deutsch zu der Sprache, in der er schrieb. Und in der er sich sein Wissen aneignete. Denn plötzlich eröffnete sich ihm die Welt der Bücher, vor allem der Lexika. Aus ihnen lernte er die Worte, die Bedeutungen und Zusammenhänge, aus ihnen lernte er die Welt kennen. Sie waren in seiner neuen Muttersprache verfasst.
1916 zog Mathilde Canetti weiter in die Schweiz, fünf Jahre später nach Frankfurt am Main. Im inflationsgebeutelten Deutschland sollte vor allem Elias lernen, was Realität ist.
Er teilte mit der Mutter die Leidenschaft für Literatur und Theater, lange Zeit unterstütze sie seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, nahm dann aber davon Abstand und bevorzugte einen praktischen Beruf.
1924 machte Elias Abitur und begann in Wien Chemie zu studieren. Fünf Jahre später legte er dort seine Promotion ab, doch ein Beruf in diesem Metier interessierte ihn überhaupt nicht.
Er hatte die Bekanntschaft einiger Literaten in Wien gemacht, ebenso in Berlin bei einem Aufenthalt im Sommer 1928, er war seit 1924 mit Veza Taubner liiert, die seine literarischen Ambitionen stets unterstützte. Von Anfang an, besonders ab der Hochzeit 1934 bis zu Vezas Tod 1963 war sie diejenige, die den Hauptteil des Einkommens verdiente. Auch sie schrieb, ihr einziger Roman, der veröffentlicht wurde, ist "Die gelbe Straße".
Elias bildete sich philosophisch, besuchte die Vorlesungen von Karl Kraus, verfasste Dramen, schrieb den Roman "Die Blendung" (1930/31, veröffentlicht 1936 - für ihn bekam er 1981 den Nobelpreis). Und er sammelte jahrelang Material für sein Projekt "Masse und Macht".
Wegen des zunehmend judenfeindlichen Klimas in Österreich siedelten Elias und Veza Anfang 1939 nach England über. In London wohnten sie in getrennten Wohnungen, führten eine unkonventionelle Ehe. Sie verdiente das Geld, er hatte Nebenfrauen, oft mehr als eine, manchmal jahrelang, war aber hocheifersüchtig, wenn Veza Kontakt zu einem andern Mann hatte. Doch die Ehe hielt dem allen stand, Vezas Tod stürzte Elias in eine Krise. Bis auf die Liebesverwicklungen lebte Canetti ein eher zurückgezogenes Leben, reiste auch nicht viel. Das mag am Geldmangel gelegen haben, aber zeitlebens waren Bücher das Medium, durch das Canetti die Welt kennenlernte. Ob Märchen oder Reiseberichte, Landkarten oder soziologische Studien: durch sie machte er sich mit fremden Kulturen vertraut.
Eine seiner wenigen Reisen führt ihn 1954 nach Marrakesch. Canetti begleitet einen Freund, der dort einen Film dreht. Ein paar Wochen verbringt er in der Stadt, streift umher, macht sich Notizen. Erst nach der Rückkehr nach London schreibt er seine Beobachtungen und Erlebnisse nieder.
Und beweist, wie empfänglich er für die Realität ist, wie groß seine Bereitschaft ist, Augen und Ohren zu öffnen und fremden Menschen und Kulturen nicht nur in Bücher zu begegnen.
"Die Stimmen von Marrakesch" besteht aus vierzehn eigenständigen Skizzen, in welchen Canetti sich der Stadt, ihren Menschen, Tieren und Eigenheiten nähert. Er ist fasziniert von dieser fremdartigen Welt, vor der er großen Respekt hat.
Zuerst führt Canetti den Leser auf einen Kamelmarkt.
Dann schlendert er durch einen Suk, erfreut sich an der Schönheit der Waren und ihrer Präsentation.
In der dritten Skizze, "Die Rufe der Blinden", begegnet man erstmals ganz direkt einer der vielen Stimmen dieser Stadt. Hier jenen Menschen, die täglich stundenlang das Wort "Allah" rufen, sie "bieten einem den Namen Gottes an. ...
Es sind akustische Arabesken um Gott, aber wieviel eindrucksvoller als optische..." Diese Stimmen sind eine Emanation der Religion, der arabischen Kultur: "Ich habe begriffen, was diese blinden Bettler wirklich sind: die Heiligen der Wiederholung."
Canetti beschreibt heilige Männer auf einem Platz, singende Frauen in Fensternischen, die Bewegungen und Laute auf dem Brotmarkt, er leidet mit gequälten Eseln, beobachtet Familien, die um einen Schreiber herumstehen.
Das Herz des Buches sind (für mich) die beiden Geschichten, die ihn ins Judenviertel führen.
"Mir war zumute, als wäre ich nun wirklich woanders, am Ziel meiner Reise angelangt. Ich mochte nicht mehr weg von hier, vor Hunderten von Jahren war ich hier gewesen, aber ich hatte es vergessen und nun kam mir alles wieder. Ich fand jene Dichte und Wärme des Lebens ausgestellt, die ich in mir selber fühlte. Ich war dieser Platz, als ich dort stand. Ich glaube, ich bin immer dieser Platz."
Er besucht die dortige Schule, in der zweihundert kleine Kinder gemeinsam lernen.
Dann geht er durch den Friedhof, der ihm zunächst wie ein "Schutthaufen" erscheint. Bis er begreift, dass diese "Mondlandschaft des Todes ... die allerletzte Wüste" der Juden ist.
Vor dem Bethaus wird er von Bettlern bedrängt, noch nie sind ihm Menschen so nah gekommen. Dies erschreckt ihn und ergreift ihn.
Er möchte gerne das Innere eines Hauses sehen, die Familie Dahan lässt ihn ein. Er lernt ihre Heimstatt kennen, den jungen Sohn, der ihm den ganzen Tag die Ohren zuschwatzt, und auch den alten, ehrwürdigen Vater, einen Gelehrten, der die Worte fein wägt.
Wo immer Canetti hinkommt, ist er umringt von Stimmen, die sich ihm noch stärker einprägen als das, was er sieht.
Sie sind das, was in seine Seele eingeht.
Die Stimmen sind vielfältig, unberührt von Schmutz und Armut, sie erheben sich darüber hinweg. Sie zeigen den Charkter eines Menschen, einer Kultur, die vieles im Verborgenen hält (wie z.B. Gestalt und Gesichter der Frauen).
Die letzte kleine Geschichte ist dem "Unsichtbaren" gewidmet. Dieser ist ein Lumpenbündel, das auf einem Platz der Stadt liegt und unaufhörlich "ä-ä-ä-ä" ruft, vielleicht einer, der kein "l" mehr aussprechen kann, um "Allah" anzurufen. Aber dieses "ä-ä-ä-ä" ist der Laut, "der alle anderen Laute überlebte."
So setzt sich das Bild der Stadt aus Lauten zusammen, aus Stimmen, einzelnen, zusammentönenden. Sie kreieren eine Vorstellung, die anders ist, als eine das Gesehene beschreibende.
Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch
Hanser Verlag, 2014, 159 Seiten
Fischer Taschenbuch, 2014, 89 Seiten
(Erstveröffentlichung 1967)