Dante Andrea Franzetti - Der Grossvater
Franzetti, geboren 1959 in Zürich, Kind einer Schweizerin und eines Italieners, veröffentlichte diesen Text erstmals 1985.
Damals kam gerade eine Literatur auf, die "Gastarbeiterliteratur" oder, noch abfälliger, "Betroffenheitsliteratur" genannt wurde. Doch es wäre sehr ungerecht, Franzettis Suche nach dem abwesenden Großvater in eine solche Schublade zu stecken.
Der erste Teil ist mit "Erinnerungen, Bruchstücke" überschrieben. "Das Haus", "Die Fotografie", "Der Dachboden", "Das Gewehr" usw. sind die Stichworte, die der in Ich-Form schreibende Enkel zum Anlass nimmt, die Erinnerungen an den Großvater zusammenzusetzen.
Ausgehend von einer alten Fotografie, die einen freundlich dreinblickenden Großvater und eine abweisend wirkende Großmutter zeigt, geht er mehr als zwanzig Jahre nach dem Tod des Großvaters den Spuren seines Lebens nach.
Der namenlose Enkel spricht dabei von seinen eigenen Erinnerungen an Geschichten, die der Großvater erzählte, oder die der Enkel zusammen mit ihm erlebte.
Diese Perspektive verändert er im zweiten Teil:
"Stationen, Episoden". Hier schreibt er in der Du-Form:
du und deine Altersgenossen, du und dein erstes Fahrrad, du in Zürich und andere kleine Geschichten.
Der Autor macht ganz deutlich, dass er keine lückenlose Biografie schreiben möchte, sondern er möchte einem Leben nach-denken.
"Ich habe eine bestimmte Vorstellung von dir, von dieser Vorstellung will ich ausgehen und sehen, welche Geschichten zu dir passen. Du warst ja selbst ein grosser Erzähler. Nur schriebst du deine Erzählungen nicht auf."
Auf diese Art entwirft der Autor nicht nur das Leben seines Großvaters aus dem Rückblick, sondern auch der Zeit, in der er lebte.
Jahrgang 1885, nicht wie der Vater Bauer, sondern Maurer ist er geworden. Er ist Vater von neun Kindern, einige Jahre arbeitet er in Zürich, um die Familie ernähren zu können.
Dreh-und Angelpunkt in der fiktiven Heimatgemeinde Limoli ist die Familie Falcetta, die den Ersten Weltkrieg genauso übersteht wie den Faschismus, den Zweiten Weltkrieg und danach immer noch der größte Arbeitgeber ist und die Familie, die am meisten Land besitzt. Die Zeiten ändern sich, die Falcetta bleiben. Zumindest während der Lebenszeit des Großvaters, der fast achtzig wurde.
Stolz ist der Enkel, dass der Großvater nicht das verlockende Angebot der Falcetta annahm und Aufseher wurde, stolz auch, dass er nicht das schwarze Hemd anzog. Stolz darauf, dass er zu Innocente, dem Altersgenossen, der expressionistische Bilder malte und posthum sehr berühmt wurde, eine lebenslange Freundschaft pflegte, auch dann, als Innocente mit Malverbot belegt war.
Vor allem erinnert sich der Enkel an einen Mann, der trotz der lebenslangen harten Arbeit nicht hart wurde und der trotz bitterer Armut großzügig blieb.
In dem nur wenige Seiten umfassenden letzten Teil "Träume, Visionen", wechselt der Autor zum "Wir".
Es tauchen die Personen auf, die Teil der Geschichte sind: Marco und Luisa, Cousin und Cousine, Roberto, der Onkel des Erzählers, der nicht aus dem Krieg zurückkam, Ferruccio, der einzige Kommunist Limolis, der junge Falcetta und Innocente. Der Traum ist gemalt wie ein Bild dieses Malers, der die andere Seite des Lebens repräsentiert, die poetische. Sein Name - der Unschuldige - dürfte kein Zufall sein.
Franzetti hat seinem Buch ein Zitat aus Heinrich von Ofterdingens "Novalis" vorangestellt.
In diesem bittet er darum, die Vergangenheit nicht sterben zu lassen, sondern sich gerade an das Leben eines "einzelnen unbedeutenden Mannes" zu erinnern, "da gewiss sich das grosse Leben seiner Zeitgenossen darin mehr oder weniger spiegelt."
Dies ist Franzetti in seinem Buch über den Großvater und sein Leben in einer feudal geprägten Zeit gelungen.
Dante Andrea Franzetti: Der Grossvater
Lenos Verlag, 2013, 124 Seiten
(Überarbeitete Neuausgabe, Erstveröffentlichung 1985)