Annemarie Schwarzenbach

 

 

 

Eine relativ „bekannte unbekannte“ Autorin des 20.Jahrhunderts ist Annemarie Schwarzenbach.

 

Die Schweizerin (1908-1942) war Tochter einer schwerreichen Familie (der Vater war einer der größten Seidenfabrikanten der Welt, die Mutter stammte ebenfalls aus vermögendem Haus) und allein diese Herkunft gab ihr eine besondere gesellschaftliche Stellung.

 

Annemarie war hochintelligent und konnte ohne finanzielle Sorgen studieren, schon mit 23 Jahren promovierte sie, noch während des Studiums veröffentlichte sie sehr gute Arbeiten in diversen Zeitungen. Politisch – und auch mit ihrem Lebensstil - stand sie in Opposition zu ihrer Familie, die sehr nach rechts neigte und mit den Nationalsozialisten sympathisierte (“Schweizer Front“).

Auch persönlich hatten sie und ihre Mutter stets Schwierigkeiten miteinander und so war das Zusammenleben fast unerträglich für die sensible Annemarie. Immer wieder wurde sie mit Liebes- oder Geldentzug bestraft und so immer weiter von der Familie weggetrieben.

 

1931 ging sie nach Berlin, schon zuvor hatte sie Erika und Klaus Mann kennengelernt, mit welchen sie befreundet war und zusammenarbeitete. In Erika verliebte sich Annemarie heftig, doch diese erwiderte die Gefühle nicht, erstmals suchte Annemarie Trost im Morphium.

Diese Sucht wurde sie ein Leben lang nicht los, viele Aufenthalte in Entzugskliniken oder der Psychiatrie konnten sie nicht heilen.

Annemarie führte ein äußerst ruheloses Leben. Ihre erste Reise ging nach Spanien (1933), im gleichen Jahr fuhr sie nach Persien, bis 1941 unternahm sie ausgedehnte Reisen in den Orient, nach Indien, in die USA, nach Afrika und auch durch Europa.

Außer Reisereportagen schrieb sie Erzählungen, Romane und Gedichte.

 

Im Herbst 1942 hielt sie sich in ihrem Haus im Engadin auf, fuhr mit dem Fahrrad einen Berg hinunter, stürzte und starb an den Folgen dieses Sturzes wenige Wochen später.

 

 Soweit in groben Zügen die Lebensgeschichte dieser Autorin, der man ein großes Publikum wünscht, denn ihre Reportagen gehörten zum Besten, was ich jemals gelesen habe.

 

Immer wieder wird sie im Zusamenhang mit den Geschwistern Mann genannt oder auch mit Carson McCullers, es gibt einiges an Sekundärliteratur über sie, ihr Werk ist bei Lenos in Basel verlegt und auch lieferbar, anlässlich ihres 70. Todestages wurden gute Radiosendungen produziert, es werden Vorleseabende ihrer Werke angeboten, aber so richtig bekannt ist sie leider nicht.

 

Mir hat es besonders „Alle Wege sind offen“angetan. Es sind ausgewählte Texte ihrer Reise nach Afghanistan 1939/40, zusammen mit der Fotografin Ella Maillart – im Auto!

 

Über Triest, Zagreb, Belgrad, und Sofia fuhren sie nach Istanbul. Bis hierhin konnten sie  die sogenannte „Internationale Straße“ benutzen, die immerhin ab und zu ein Stück weit asphaltiert war, manchmal kamen sie aber mit nur acht Kilometer pro Stunde vorwärts. Warum fuhren sie mit dem Auto und reisten nicht weitaus bequemer mit dem Zug? Den beiden Frauen ging es nicht darum, schnell ans Ziel zu kommen, gleich auf der zweiten Seite schreibt Schwarzenbach von dem Wunsch, die Grenzen kennen zu lernen. Das Trennende, hinter der Grenze Neue zu erleben, aber auch das zu sehen, was überall Gültigkeit hat, die schlichten Gesetze der Landwirtschaft, der Fortbewegung, der Gastfreundschaft.

 

Sie skizziert beispielsweise relativ kurz den Übergang vom Land der Habsburger auf den Balkan, die sich verändernde Form des Brotes, die Kleidung der Bauern, die gleich hinter der bulgarischen Grenze asiatisch anmutende Landschaft – in so wenigen Worten malt sie ein so lebendiges Bild, sofort entsteht eine Vorstellung dieser fernen Welt vor den Augen.

 

In Istanbul war sie schon einige Jahre früher einmal gewesen, hier vermischen sich Erinnerung, Wiedererkennen mit einigen Gedanken über den Sinn des Reisens, den Mut, täglich neu aufzubrechen, die Sehnsucht, weiterzufahren, gleichzeitig aber auch eine Sehnsucht, das Vertraute nicht zu schnell zu verlassen, das Gefühl des Angekommen-Seins, das nur so kurz währt, denn warum sollte man gerade jetzt am richtigen Ort sein?

 

Von Istanbul aus fahren sie durch Anatolien in den Iran, sie passieren den beeindruckenden Berg Ararat und später den Demawend. Diesen erlebt Schwarzenbach als das Sinnbild der Unvergänglichkeit. In einer hellen Nacht erhebt er sich wie eine Vision und zeigt sich plötzlich in seiner ganzen Breite – unvergleichlich, diese vier Sätze, mit denen sie eine Welt hervorzaubert.

 

In dem „Die Steppe“ überschriebenen Text des gleichnamigen Kapitels stellt sie die Überlegung an, ob das Reisen nicht weniger ein Ausflug in unbekannte Bereiche als vielmehr ein Abbild der menschlichen Existenz sei. Denn über all den festen und gewohnten Abläufen des Tages vergisst man (absichtlich, um sich nicht fürchten zu müssen), dass alles stets in Bewegung ist, und man auch von Abläufen, die weit weg von einem stattfinden, betroffen ist. Hier reflektiert Schwarzenbach auch auf den inzwischen in Europa ausgebrochenen zweiten Weltkrieg, den sie weit weg weiß und der doch trotzdem auf sie einwirkt.

Während einer Reise lernt man eher, dass das Leben eine Abfolge von „Episonden“ ist, bestimmt von vielen Zufällen, man lernt, dass eine Reise keine Befreiung ist, sondern eine harte Schule in Begegnen und Verlieren - wie das alltägliche Leben selbst.

 

So vermischen sich in allen Texten, die meist zwischen 5 und 10 Seiten lang sind, was sie erlebt, Beschreibungen dessen, was sie konkret vor Augen sieht, Sitten, die sie kennenlernt, Menschen, denen sie begegnet mit Gedanken, die diese Eindrücke und Wahrnehmungen in ihr auslösen.

 

Schwarzenbach kommt nie mit einem Blick, den man „kolonial“ nennen könnte, mit ihren europäischen Vorstellungen in ein Land (was nicht heißt, dass sie unkritisch wäre), sie reist und schreibt in einer Art, die ich nur mit einem Begriff aus der Poetik beschreiben kann:

sie verwandelt sich ein Land an.

 

Wir kennen den Iran, Afghanistan, den Hindukusch, Peshawar, die Stadt Masar-e Scherif und viele andere heute nur noch aus den Nachrichten, der Kriegsberichterstattung, verbinden sie mit Islamisten, Korruption und Unterdrückung – in den Büchern von Annemarie Schwarzenbach lesen wir von ganz anderen Welten, wir lernen eine unglaubliche Gastfreundlichkeit kennen, eine Großzügigkeit, die ihresgleichen sucht oder erfahren von der großen Kunstfertigkeit der Handwerker.

 

Sie beschreibt die Länder und Menschen genau, geht nicht leichtfertig über sie hinweg, sie stellt die eigene Sicht ständig in Frage und sie reflektiert alles Gesehene. Sie ist einsam, süchtig, sie möchte weiter weg und gleichzeitig zurück- und sie schreibt in einer wunderbar poetischen Sprache, bescheiden, aber eindringlich.

 

Ich wünsche ihren Büchern viele viele Leser, sie sind wirklich herausragend schön.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Annemarie Schwarzenbach: Alle Wege sind offen

Die Reise nach Afghanistan 1939/1940

Lenos Verlag, Basel, 2011, 169 Seiten

(in diesem Verlag sind auch ihre anderen  Werke erschienen)