Andrzej Szczypiorski - Die schöne Frau Seidenmann

 

 

Irma Seidenmann ist eine schöne, elegante und intelligente Frau, mit noch nicht einmal 35 Jahren ist sie bereits Witwe. Ihr Mann, ein Radiologe, hinterließ diverse Forschungsunterlagen, diese sichtet Irma und arbeitet teilweise auch daran weiter. Sie ist eine angesehene Person und lebt ein zurückgezogenes Leben im Warschau der Vorkriegszeit.

 

Dass sie Jüdin ist, wird ihr erst richtig bewusst, als die Deutschen über das Land herfallen und natürlich erst recht, als das Ghetto eingerichtet wird.

Irma Seidenmann hat einen großen Vorteil: sie ist blond und hat sehr blaue Augen. Sie besorgt sich falsche Papiere, heißt nun  Maria Magdalena Gostomska, wechselt die  Wohnung und ist nun offiziell eine Offizierswitwe.

Längere Zeit kann sie so unbehelligt leben, doch eines Tages wird sie festgenommen: ein "Judenjäger", der sie aus der Vorkriegszeit kennt, hat sie verraten. Es gelingt ihr noch, ihrem Nachbarn mitteilen zu lassen, dass sie ins Gestapo-Hauptquartier verbracht wurde.

Dort verbringt sie eine Nacht im sogenannten "Käfig", schließt mit ihrem Leben ab und glaubt nicht mehr an

eine Rettung. 

 

Doch ihr Nachbar, der Altphilologe Dr. Korda, alarmiert sofort Pawelek Krynski, der nimmt Kontakt zu dem Eisenbahner und Freiheitskämpfer Filipek auf, dieser wiederum bittet Johann Müller, einen in Polen lebenden Deutschen, offiziell Parteimitglied der NSDAP, um Hilfe. Dieser erbittet sich einen Termin beim Leiter des Gefängnisses, dem Thüringer Stuckler, und sagt, Frau Gostomska wäre eine gute alte Bekannte von ihm und niemals eine Jüdin. Es müsse sich um einen Irrtum handeln. Es gelingt Müller, Stuckler zu überzeugen, Irma Seidenmann wird auf der Stelle entlassen.

 

Erst später wird ihr klar, dass eine ganze Reihe von Menschen an ihrer Rettung beteiligt waren, dass viele sich um sie bemüht haben.

 

In diese Geschichte um Irma Seidenmann sind die Lebensgeschichten der oben genannten und einiger weiterer Personen verwoben, die in eigenen Kapiteln erzählt werden.

 

Pawelek Krynski war ein Nachbar der Seidenmanns.

Er besuchte als Kind eine Untergrundschule, später die Untergrunduniversität. Er betätigt sich als Kunsthändler,

vor allem aber: als Jugendlicher war er in seine schöne Nachbarin verliebt. Grund genug, sich für sie einzusetzen.

 

Sein bester Freund ist Jenryk Fichtelbaum. Dieser kommt 1940 mit seiner Familie ins Ghetto, flieht zwei Jahre später als 18jähriger aber und lebt dann für ein Jahr in einem Versteck, das Pawelek ihm besorgt hat. Dort hält er es schließlich nicht mehr aus, er muss wieder durch die Strßen gehen und Menschen sehen. 

1943 beschließt er, das Schicksal seines Volkes zu teilen und geht zurück ins Ghetto.

Zuvor lässt der Vater aber noch Henryks kleine Schwester Joasia hinausschmuggeln. Sie bleibt kurze Zeit bei Pewelek und seiner Mutter, dann wird sie bei katholischen Schwestern untergebracht. Sie überlebt den Krieg und wandert später nach Israel aus.

 

Interessante Figuren sind auch noch der Richter Romnicki sowie der Schneider Kujawski, ein ehemals armer Christ,

der aber eine jüdische Schneiderei übernahm, als der Eigentümer ins Ghetto kam und damit ziemlich reich wurde.

 

Zum Handlungsverlauf noch so viel: Irma Seidenmann beschließt ihr Leben in Paris. Sie muss Warschau 1968 verlassen, Juden waren auch zu dieser Zeit nicht gern gesehen in Polen. Hier trifft sie noch einmnal Pawelek Krynski und wirft einen Blick zurück auf ihr Leben.

 

Der Roman ist also wesentlich mehr als die Lebensgeschichte einer Frau. Er zeichnet Portrais von Deutschen, Polen und Juden, von sehr hilfsbereiten und wagemutigen Menschen, von Schweigenden und Beherzten, von Menschenverächtern und Verbrechern.

Es werden Deutsche aus der Sicht von Polen geschildert,

die genau so sind, wie man sich den pflichtbewussten, keine Schuld erkennenden Deutschen vorstellt. Es kommen aber nicht automatisch alle Nicht-Deutschen gut weg.

Die Frage nach der persönlichen Verantwortung stellt sich jedem. Interessant ist deshalb auch, dass der Roman nicht mit dem Kriegsende aufhört.

 

Noch ein paar Worte zu Szczypiorski: er wurde 1924 in Warschau geboren. Nach dem Scheitern des Warschauer Aufstandes 1944 kam er ins KZ Sachsenhausen, wo er Deutsch lernte. Nach dem Krieg arbeitete er als Journalist,

er schrieb Krimis und Kinderbücher: das war sein Broterwerb. Die Romane, die er verfasste, wurden in Polen nicht veröffentlicht, seine Texte kursierten aber im Untergrund.

"Die schöne Frau Seidenmann" erschien 1986 in Paris.

Dieses Buch war der internationale Durchbruch, auf Deutsch kam es 1988 heraus.

Von 1989 bis 91, also nach der politischen Wende, war Szczypiorski Senator im polnischen Parlament.

Bis zu seinem Tod im Jahr 2000 äußerte er sich öffentlich zu Themen der Entwicklung des Landes.

 

Dieses Buch, das so anschaulich ein Stück Zeitgeschichte schildert, ein Gesellschaftspanorama abbildet und die Schicksale diverser Individuen erzählt, verdient nicht nur neuerliche Beachtung angesichts des 70. Jahrestages des Aufstandes. Aber dieser Jahrestag könnte ein Anlass dafür sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

Andrzej Szczypiorski: Die schöne Frau Seidenmann

Diogenes, 1991, 278 Seiten

(Originalausgabe 1986)