Albert Camus - Der Fremde
Dieses schmale Büchlein von Camus, geschrieben 1940, erstmals veröffentlicht 1957, ist oft interpretiert worden.
Und fast alle sind sich einig, dass es sich bei dem Protagonisten Meursault um einen gefühlskalten Menschen handelt, der ein Defizit aufweist, das psychologisch behandelt werden sollte.
Die Erzählung beginnt mit der Beerdigung von Meursaults Mutter. Sie verbrachte ihre letzten Jahre in einem Altersheim, zwei Busstunden von Algier entfernt. Ihr Sohn hat sie nicht oft besucht, zu weit war ihm der Weg dorthin. Der wichtigere Grund war aber der, dass sie sich nichts mehr zu sagen hatten und so ein Besuch für ihn immer sehr unangenehm war.
Der Ich-Erzähler beschreibt die Ankunft im Heim,
das Gespräch mit dem Leiter, seine Begegnung mit dem Pförtner, die Nachtwache zusammen mit den alten Frauen und die Beerdigung selbst sehr genau und recht distanziert. Er hat immer wieder den Eindruck, gegen die Konventionen zu verstoßen, andererseits sieht er kein Problem darin, das zu tun, was er möchte (eine Tasse Kaffee annehmen z.B.).
Am Tag darauf fährt Meursault wieder zurück nach Algier.
Er geht schwimmen, trifft eine alte Freundin wieder, mit der er abends ins Kino geht und anschließend die Nacht verbringt. Dies ist der Beginn einer engeren Beziehung, Maria möchte ihn später auch heiraten.
Im weiteren Verlauf der Erzählung berichtet Meursault von seinem Büroalltag, man lernt ein wenig die Nachbarschaft kennen. Es fällt auf, dass er zu allem um ihn herum ein rein beobachtendes Verhältnis hat.
Er würde Maria heiraten, wenn sie dies möchte, ihm selbst bedeutet es nichts.
Er schreibt für den Nachbarn Raymond einen Brief an dessen untreue Geliebte aus reiner Gefälligkeit, weil er eben besser schreiben kann als Raymond.
Es bedeutet ihm auch nichts, dass er nun Raymons "Freund" ist, wie dieser betont.
Er sieht keinen Sinn darin nach Paris zu gehen und dort eine bessere Arbeit auszuführen, wie sein Chef es ihm anbietet, denn er fühlt sich wohl in Algier.
Die Menschen um ihn herum suchen durchaus seine Gesellschaft, fragen ihn auch um Rat und bitten um seine Hilfe. Er gewährt dies alles großzügig, denn warum sollte er die Bitten abschlagen?
Dann kommt es zu der schrecklichen Tat: Raymond hatte seine Geliebte verprügelt, ihr Bruder will sich rächen. Meursault ist zusammen mit Raymond und einem weiteren Bekannten am Strand, da kommen der Bruder und ein weiterer Araber auf die Männer zu. Raymond wird verletzt, sie ziehen sich ins Strandhaus zurück.
Später spaziert Meursault nochmal alleine am Strand entlang, die Sonne brennt gnadenlos auf ihn nieder. Da trifft er den Bruder der Geliebten, an den er schon gar nicht mehr gedacht hatte. Dieser zieht ein Messer, dessen Klinge durch eine Lichtreflexion ihm wie ein Schwert in den Wimpern "wühlt". Meursault zieht den Revolver Raymonds, der zufällig noch in seiner Tasche steckte und erschießt den Mann.
Damit endet der 1. Teil des Buches.
Im 2. Teil wird die Befragung Meursaults durch den Richter und seinen Anwalt beschrieben, die Verhandlung, das Resümee des Richters und natürlich die Gedanken, die sich Meursault im Gefängnis macht.
Auffallend ist zunächst, dass es in der Verhandlung weniger um das Verbrechen des Mordes, als vielmehr um Meursaults Verhalten bei der Beerdigung geht. Sein anscheinend falsches, pietätloses Benehmen, sein vergnüglicher Tag gleich danach scheinen die eigentlichen Verbrechen zu sein.
Alles was er getan oder nicht getan hat, wird im nachhinein gegen ihn verwendet.
Es wird ein Persönlichkeitsbild von ihm gezeichnet, das nur darauf ausgerichtet ist, ihn als Mörder zu definieren.
Nicht als einen Menschen, der einen Mord begangen hat, sondern als einen, der nichts weiter als ein Mörder ist.
Meursault versucht kein einziges Mal, sich in ein gutes Licht zu setzen, von Anfang an lehnt er es ab, etwas zu sagen, das nicht der Wahrheit entspricht, nur um sich das Gericht gewogen zu stimmen.
Das tut er auch dann nicht, als das Urteil verkündet wird:
die Todesstrafe. Meursault soll öffentlich geköpft werden.
Der ganze 2. Teil ist eine Betrachtung der Begriffe Religion, Gott, Reue, die Zeit, Erinnerungen, Tod, Schuld, Sühne, Moral und Freiheit.
Meursault ist ein Mensch, dem alles gleich-gültig ist.
D.h. alles gilt ihm gleich viel. Er lässt sich nicht ein in die Verstrickungen der Menschen untereinander und ihre Machtspiele. Auch angesichts des Todes bewahrt er sich die persönliche Freiheit, die Erwartungen, die an ihn gestellt werden, nicht zu erfüllen.
Der Tod ist sowieso unausweichlich.
Ist dieses Verhalten ein Fall für den Therapeuten?
Der Mord als schlimmstes alles Verbrechen gibt Camus die Möglichkeit, die Absurdität des Lebens durchzudenken.
Das Verhalten des Richters und aller anderen, Meursaults eigenes Denken und Handeln führen ganz konkret vor Augen, was urteilen einerseits und wahrnehmen und reflektieren andererseits bewirken können.
Albert Camus: Der Fremde
Aus dem Französischen von Uli Aumüller
Rowohlt-Tb, 2013, 157 Seiten
(Franz. Originalausgabe 1942)