Karl Philipp Moritz - Anton Reiser
Ein psychologischer Roman
Dieser Roman wurde zwischen
1785 und 90 geschrieben und er gehört in eine Reihe mit den großen Entwicklungsromanen dieser Zeit.
Moritz fängt in ihm ganz präzise die gesellschaftliche Realität des ausgehenden 18. Jahrhunderts ein und beschreibt dabei die ersten zwanzig Lebensjahre des Anton Reiser.
Da dieser einige Ähnlichkeiten mit seinem Schöpfer hat, soll zuerst ein wenig über K.P. Moritz berichtet werden.
Er wurde 1756 in Hameln geboren. Sein Vater war Musiker, die Familie lebte in sehr ärmlichen Verhältnissen, die vom Pietitsmus geprägt waren. Moritz war ein begabtes Kind, trotzdem wurde er schon früh in die Lehre gegeben (er sollte Hutmacher werden), da die Schulausbildung zu teuer war. Die Lehre brach er aber ab und glücklicherweise bekam er ein Stipendium für das Gymnasium in Hannover.
Er versuchte mehrmals an diversen Theatern Fuß zu fassen, was nicht klappte, studierte aber auch immer
wieder und konnte so ab 1778 unterrichten, 1784 wurde er Gymnasialprofessor in Berlin.
1786 lernten sich Moritz und Goethe in Rom kennen, eine schöne Freundschaft entstand. Auf der Rückreise besuchte Moritz Goethe in Weimar, lernte auch den Herzog Carl August kennen, den er in Englisch unterrichtete. Carl August empfahl Moritz für eine Professur an der Akademie der Künste in Berlin, diese Stelle bekleidete Moritz ab 1789. Er machte eine akademische Karriere und wurde zum Hofrat ernannt.
Von August bis Dezember 1792 war er verheiratet, dann kam die Scheidung, im Mai 1793 heiratete er dieselbe Frau noch einmal, einen Monat später verstarb er mit 36 Jahren an einem Lungenödem. Dieses war die Folge einer Lungenkrankheit, an der er seit seiner Jugend litt.
Anton Reiser ist ebenfalls der Sohn eines Musikers, der ganz und gar dem Pietismus hingegeben lebt. Er studiert die Schriften der Madame Guion, die eine riesige Sammlung von Schriften und Liedern zur Bibel hinterlassen hat. Die Mutter Reisers hängt einer anderen Ausprägung der protestantischen Lehre an und diese verschiedenen religiösen Auffassungen der Eltern führen zu einem ständigen Streit, zu einer ewig sauertöpfischen und zänkischen Stimmung.
Das macht die Armut nicht erträglicher. Das weitaus Schlimmste für Anton ist aber, dass er sich von seinen Eltern nicht geliebt fühlt. Sie beten, hinterfragen ihre Gefühle Gott gegenüber, bemühen sich, alle Leidenschaften in sich zu "ertöten" und alle Eigenheiten "auszurotten" und bemerken dabei nicht, dass ein kleiner Mensch in ihrer Mitte verkümmert.
Dies ist kein spezifisches Problem der Familie Reiser, es liegt im Pietismus selbst. Dieser ist eine strenge Religion, die Härte gegen sich selbst und andere fordert. Jedes Nachgeben könnte vom rechten Weg abführen.
So findet auch Anton mehr Trost in den Liedern der Madame Guion als in den Armen der Mutter und es ist eine große Ehre für ihn, dass der Vater ihn mitnimmt zum Herrn von Fleischbein, der die Schriften Guions übersetzt. Für Anton ist dies eine Art Kur, denn er war sehr krank gewesen, hatte eine böse Wunde am Fuß gehabt.
Bei Herrn von Fleischbein entdeckt Anton in der Bilbliothek auch andere Schriften: vor allem die "Acerra philologika", die die Geschichte von Troja, Odysseus, vom Tartarus und Elysium enthält. Bald steht er auf vertrautem Fuß mit den griechischen Göttern, die er für ebenso wahr hält, wie den Gott, zu dem er seit frühester Kindheit betet und zu dem er ein recht freundschaftliches Verhältnis entwickelt hat. Er liest auch den "Telemach", hierbei entdeckt er das ästhetische Vergnügen an der Dichtung.
Anton wird wieder gesund, er darf jetzt sogar die Schule besuchen (das Lesen hatte er sich selbst beigebracht). Aber die Freude darüber währt nur kurz, denn er wird bald doch in eine Lehre gegeben. Nach Braunschweig zu einem Hutmacher.
Er beendet diese Lehre nicht, mit nun 13 Jahren wird er wieder nach Hause geschickt.
Hier endet der 1. Teil des Romans. Man hat schon viele Hochs und Tiefs Antons miterlebt, vor allem seine ewige Suche nach Anerkennung. Über jedes Lächeln, das ihm gilt, freut er sich so sehr, dass er bald danach über die Stränge schlägt und sich einen Tadel einhandelt. So verfestigt sich in ihm die Ansicht, dass er absolut nichts Liebenswertes an sich hat. Warum also sollte ihn jemand lieben?
Anton möchte gerne studieren, er weiß zumindest, dass er das Zeug dazu hätte. Und mit Beginn des 2. Teiles wendet sich das Blatt (erstmal): ein Wohltäter nimmt sich seiner an, er kann wieder zur Schule gehen. Und er bekommt einige "Freitische", d.h. er geht jeden Tag in ein anders Haus, wo er eine Mahlzeit bekommt. Wie sehr ihn dies demütigt, kann man sich kaum vorstellen. Überall wird ihm deutlich gemacht, dass er ein Bittsteller ist, eine Art Bettler.
Diese Einrichtung der Freitische ist eine als Almosen getarnte Demütigung. Nicht die Mächtigen, die Geld ohne Sinn und Verstand ausgeben, schämen sich, sondern die Armen schämen sich ihrer Armut. Eine Parallele in unsere Zeit zu ziehen ist hier sicher nicht fehl am Platz.
Anton schämt sich auch seiner überaus schlechten Kleidung. Schlimmer als ein Knecht muss er herumlaufen. Die Verwalterin des Stipendiums hat den Ehrgeiz, dieses zu sparen und ihn irgendwie anders durchzubringen.
Anton entdeckt das Theater. Immer wieder geht er hin, es übt eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Und führt schließlich dazu, dass er sein Logis beim Rektor verliert. Damit ist wieder alles aus, alle bisherigen Aussichten sind dahin, Hunger und Verdruss beenden den 2. Teil des Romans. Alleine die Freundschaft mit Philip Reiser gibt ihm einen Lichtblick. Auch er ist ein armer Bursche, der sehen muss, wie er sich über Wasser hält.
Zu Beginn des 3. Teils ist Anton 16 Jahre alt. Er ist konfirmiert, er ist begabt, hat einige Verfehlungen hinter sich, aber ihm wird verziehen. Anton leistet Abbitte, wird wieder in die bürgerliche Gemeinschaft von Logis, Freitisch und Schule aufgenommen.
Diesmal hat er sogar einigen Erfolg: er schreibt Gedichte, die veröffentlicht werden, er hält Reden, die gut ankommen, er unterrichtet und verdient damit erstmals eigenes Geld. Er liest Gottsched und Wolf, bildet sich, macht eine Reise nach Bremen und entdeckt dabei seine Lust am Wandern. Er scheint sich gefangen zu haben, genießt vor allem die Anerkennung, nach der er Zeit seines Lebens gesucht hat.
Aber: es zieht ihn immer noch zum Theater hin. Und so endet dieser Teil mit dem Entschluss, nach Weimar ans Theater zu gehen.
Mit nun 19 Jahren macht er sich auf den Weg, zuerst nach Gotha zu Ekhofs Truppe, bei der er sich Aufnahme erhofft. Daraus wird nichts. Er versucht es in Eisenach, in Erfurt: auch dort hat er kein Glück. Sein Wandern wird immer mehr zum Umherirren, äußerlich wie innerlich.
Als er schon fast allen Halt verloren hat, nimmt sich wieder ein guter Mensch seiner an, gibt ihm Wohnung und den gehassten Freitisch (aller alte Kummer kommt auch sofort wieder hoch), er wird wieder Student.
Hier ist zu lesen: "Und dies waren die glücklichsten Momente seines Lebens, wo sein eigenes Dasein erst anfing, ihn zu interessieren, weil er es in einem gewissen Zusammenhange und nicht einzeln und zerstückt betrachtete.
Das Einzelne, Abgerissene und Zerstückte in seinem Dasein war es immer, was ihm Verdruss und Ekel erweckte.
Und dies entstand so oft, als unter dem Druck der Umstände seine Gedanken sich nicht über den gegenwärtigen Moment erheben konnten. - Dann war alles so unbedeutend, so leer und trocken und nicht der Mühe des Denkens wert.-"
Hier ist der moderne Held, der sich nicht mehr als Ganzes wahrnehmen kann. Der sich seinen Weg erkämpfen muss, der innere Anlagen, eigene Wünsche in Einklang bringen muss mit den Erwartungen der Gesellschaft. Der sich dem Schicksal ausgesetzt fühlt, bei Gott Halt sucht, zweifelt, die Schuld bei sich sucht, keinen Einfluss auf die Umstände hat. Der wie Sisyphos immer wieder denkt, er hätte es geschafft, dann aber wieder von vorn anfangen muss.
Und wieder fängt Anton mit dem Theaterspielen an, bei einer Studententruppe. Es wird ihm verboten, er hört auch wieder auf, wird krank, genest, der erste Weg führt ihn, wohin wohl? Ins Theater.
Nun gibt es kein Zurück mehr. Anton schließt sich einer Truppe an, die nach Leipzig zieht. Als er dort ankommt, erfährt er, dass der Direktor die Theatergarderobe verkauft hat und mit dem Geld verschwunden ist. Die Truppe ist nun nur noch eine "zerstreute Herde".
Damit endet der Roman, Anton ist jetzt zwanzig.
Dieser Roman ist einer der ersten psychologischen Romane in deutscher Sprache. Moritz gab auch eine Art Journal heraus, ein Heft, das sich mit "Erfahrungsseelenkunde" befasste.
Aber der Roman ist zugleich ein richtiger Abenteuerroman, der von dem Abenteuer "Leben" handelt.
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Moritz verschränkt das Persönliche, den Charakter und die Entwicklung Antons mit den Besonderheiten der Zeit. Das verortet die Geschichte einerseits und bindet sie ein in die konkrete historische Situation, andererseits beschreibt er ein exemplarisches Leben, das zeitungebunden ist.
Wie eine Textur, die aus Kett-und Schussfäden besteht, webt Moritz aus dem individuellen Leben und den generellen Fragwürdigkeiten des Lebewesens Mensch einen dichten Text, der heute noch anrührt, weil sich an manchen Dingen nie etwas ändert. So schlicht das hier auch klingen mag.
Man lebt und leidet mit Anton, verliert manchmal auch das Verständnis für ihn, wird wütend über einige Personen, die doch aber ihrerseits auch wieder Gefangene sind, fragt sich, warum nicht zur Abwechsung mal etwas einfach funktionieren kann.
Der Autor reflektiert ständig das, was sein Held macht, vermittelt Einsichten und rät auch, die Wünsche mit der Realität abzugleichen, sich nicht zu verrennen, denn bei Antons Theaterliebe verwischen sich die Grenzen von Sehnsucht und Sucht.
Die Betonung der Wichtigkeit von Liebe und Anerkennung durch Eltern und Lehrer erscheint heute als Binsenweisheit. Als das Buch geschrieben wurde, regierte der Rohrstock, in aller christlichen Nächstenliebe wurden kleine Menschen gebrochen.
Hier will Moritz sicher auch den Erziehern zeigen, wohin diese Art des Umganges führen kann.
Und Bücher wie dieses haben dazu beigetragen, dass sich hier ganz viel verändert hat.
Karl Philipp Moritz: Anton Reiser
Insel, 2006, 531 Seiten
(Originalausgabe 1785-90)