Edmondo de Amicis - Liebe und Gymnastik

 

 

Turin, 1880, "Italien" als geeinter Staat ist noch sehr jung und ungefestigt.

Die Bewegung des "Risorgimento" ist lebendig, viele neue Ideen schwappen hin und her, im Kampf gegen alte Zöpfe und Vorstellungen.

 In diesen Kampf, der auch ein Kulturkampf ist, mischt sich die resolute Maestra Pedani, eine siebenundzwanzigjährige Grundschullehrerin für Sport, ein.

 

Und wie! Sie ist eine Amazone, die sich vehement, mit Körper, Seele und Geist der Gymnastik verschrieben hat. Nichts hat neben dieser Tätigkeit Platz in ihrem Leben.

Ihr Zimmer ist tapeziert mit Portraits großer Sportler, sie liest alle einschlägigen Magazine und schreibt mit flotter Feder für einige dieser Blätter, sie erteilt Privatunterricht neben ihren Stunden an diversen Schulen, sie hält Vorträge und vergisst auch nicht die täglichen Ermahnungen an Nachbarn mit Kurzatmigkeit oder sonstigen Problemen: ihrer Meinung nachen lassen diese sich allesamt mit gezielter, wissenschaftlich fundierter Gymnastik lösen.

Man kommt ganz außer Atem beim Lesen.

 

Die richtige Ertüchtigung des Körpers basiert auf allen wichtigen Gebieten der Wissenschaft: Anatomie, Physiologie, Ernährung, Sprachwissenschaft (man gebe die richtigen Anweisungen, kurz und prägnant), Ästhetik und und und.

 

Dabei verfolgt die Maestra nichts geringeres als "die Erneuerung der Welt". Ihr Ziel ist ein starkes Italien mit gesunden Bürgern, Männern wie Frauen.

 

"Die Vorstellung, in ihrem bescheidenen Rahmen auch nur ein wenig zur Vorbereitung ähnlicher Tage im eigenen Land beitragen zu können (sie bezieht sich hier auf das große Turnfest in Frankfurt 1880), indem sie den Glauben an die wunderbaren Wirkungen der Leibeserziehung verbreitete und andere dazu anregte, diese Disziplin wie das Evangelium einer Neuen Zeit zu verkünden, entflammte ihre Seele, brachte sämtliche Fähigkeiten zum Leuchten und verdreifachte ihre Arbeitskraft."

 

Ohne eine Feministin zu sein, streitet sie dabei ganz eindringlich für die Befreiung der Frauen, die dieselben Übungen machen sollten wie die Männer, was in Maestra Pedanis Gedankenweilt das Gleiche ist wie dieselben Rechte zu haben.

 

Doch wo bleibt nun die Liebe?

 

Sie hat den Mittdreißiger Calzani erfasst, glühend, geistraubend und gesundheitsgefährdend. Sein Leben gefährdend, denn er ist vor Leidenschaft für die Pedani nicht mehr in der Lage, seinen Beruf ordentlich auszuführen oder sein Leben in Ordnung zu halten. 

Er wohnt im selben Haus, ist der Neffe des Hausbesitzers und sein Sekretär, er sieht seine große Liebe täglich.

Sie sieht einen schwächlichen, ungelenken und untrainierten Mann, der auch zwanzig Jahre älter sein könnte.

Seinen stammelnd vorgetragenen Heiratsantrag beantwortet sie ablehnend, seiner Liebe zu ihr tut dies keinen Abbruch.

 

Er beschließt, sich ihr angenehmer zu machen, indem er Mitglied eines Turnvereins wird. Natrülich dauert es nicht lange, bis er vom Schwebebalken fällt und sich eine Kopfverletzung zuzieht.

Mit verbundenem Kopf steht er am Tag ihres größten Triumpfes vor ihr, bereit, sich nach Amerika einzuschiffen, weit weit weg von ihr sein Leben zu beschließen.

Da geschieht etwas völlig Unvorhersehbares...

Denn: sie bewegt sich doch...

 

Mit feiner Feder und ebensolchem Humor bringt de Amicis die Geschichte zweier ungleicher Menschen zu Papier - und mit ihr die Verwerfungen, die eine Runderneuerung eines Staates mit sich bringt.

Gesunde Körper für einen gesunden, starken Staat klingt in heutigen Ohren befremdlich, zur Zeit der Entstehung des Buches war dies ein Aufruf zur Demokratisierung.

Eine Geschichte mit einer eindeutigen Botschaft, aber so viel schöner zu lesen als ein politisches Manifest. 

Und schließlich hat die Signora doch ein fühlendes Herz, nicht alles ist Politik!

 

 

 

 

 

Edmondo de Amicis: Liebe und Gymnastik

aus dem Italienischen von Barbara Kleiner

Manesse, 2013, 256 Seiten

(Ital. Originalausgabe: 1892)