Katarína Kucbelová - Die Haube

"Eigentlich ist es ein Akt reiner Verzweiflung, hoffentlich findet sie das nicht heraus. Etwas Fremdes ins eigene Leben integrieren. Egal was. Und hoffen, dass dadurch etwas in Bewe-gung gerät. Was, das wird sich noch zeigen. Außerdem Neugierde. Wie fühlt sich eine Frau, die ihren Kopf verhüllt, was für ein Leben führt sie hier."

 

Diejenige, die diesen "Akt reiner Verzweiflung" begeht, ist eine Schriftstellerin aus Bratislava. Sie ist Mitte dreißig, verheiratet, hat eine Tochter, und in ihrem Leben gibt es offensichtlich eine Leerstelle. Über zwei Jahre lang nimmt sie regelmäßig eine sechsstündige Fahrt mit Bahn und Bus auf sich, um in die Mittelslowakei zu gelangen. Dort besucht sie Il´ka, eine knapp Achtzigjährige, die noch die Kunst der Herstellung traditioneller Hauben beherrscht. Il´ka ist die oben angesprochene "sie", eine Frau mit einem bewegten Leben.

 

Die Hauben, die von Frauen ab dem Tag ihrer Hochzeit getragen werden, haben eine einhundertsiebzigjährige Tradition. Sie wurden mit Aufhebung der Leibeigenschaft eingeführt und haben sich in dieser Zeit erheblich verändert.

Das Material wurde ganz anders, die Farben bunter, die Hauben immer reicher verziert. 

 

Welche ist die "ursprüngliche Haube"?, fragt sich die Erzählerin, die neben den vielen bei Il´ka vorhandenen auch die im Museum ausgestellten betrachtet. Dies führt sie zu ganz grundsätzlichen Überlegungen zum Thema Tradition und Folklore, zu Tracht und Kostüm, zum Missbrauch aller durch Nationalisten.

 

Das Berührende an diesem Roman ist jedoch die sich langsam entwickelnde Verbundenheit der beiden Frauen.

Bruchstückhaft, in der Summe jedoch genau und offen,  erzählt Il´ka aus ihrem Leben.

Sie spricht darüber, dass sie nicht zur Schule gehen durfte, den Mann, den sie liebte, nicht heiraten durfte. Sie wurde verheiratet, gehorchte dem Vater, wie es üblich war für eine Frau Jahrgang 1938. Sie erzählt von der bedrückenden Enge im Haus ihrer Schwiegermutter, in dem noch die beiden Brüder und Frauen ihres Mannes und einige Kinder lebten, und in dem eine strenge Hierarchie herrschte. Sie erzählt vom Selbstmord ihres Vaters, der sie brandmarkte, von der nicht endenden Arbeit, mit der jeder Tag ausgefüllt war.

"Aushalten, einfach nur aushalten", war die Devise, nicht nur die persönliche Il´kas, die in mancher Hinsicht exemplarisch für alle Frauen steht.

 

1989 litt Il´ka an einem Burn-out, zu viel hatte sich angesammelt. Eine Psychologin half ihr wieder auf die Beine. Mit dieser ist sie immer noch befreundet, auch die Erzählerin lernt sie eines Tages kennen.

Wie auch einige andere Menschen aus dem Umkreis Il´kas, Begegnungen, die sehr wertvoll für Katarína sind und ihr helfen, eigene Erinnerungen einzuordnen.

 

Es gibt Parallelen zwischen Il´ka und ihrer Großmutter Gizela, die aus derselben Gegend stammt. Doch diese hatte eine ganz andere Persönlichkeit, die Mutter der Erzählerin gewinnt kaum Kontur. Auch intime Familiensituationen sind ihr fremd, der unglaubliche Zauber einer gemeinsam ausge-übten Tätigkeit war es bislang ebenfalls - vieles ist neu für Katarína.

 

"Il´ka ist zufrieden, so soll es sein, wir sollen gemeinsam dasitzen, erzählen und arbeiten, nähen, sticken und auftrennen, uns gegenseitig helfen, wir sollen uns mitein-ander wohlfühlen und erzählen, was uns bedrückt, sie wisse aus Erfahrung, dass es hilft..."

Über das Erzählen hinaus gibt es einen Zustand, der sich einstellt, wenn das gemeinsame Tun zu einem Gleichklang führt: "Heute passierte es uns, dass sie für mich etwas zu Ende gesagt hat, das geschah einfach so, bei Menschen, die gemeinsam schweigen können, verbinden sich manchmal die Gedanken."

 

Am Ende wird ihre Haube fertig. Sie ließ sich von der Haube "führen", Il´ka ließ ihr große Freiheit bei der Ausgestaltung.

"Sie hat eine ganz andere Funktion, ich werde sie nicht tragen, weder bei einem Auftritt noch bei der Hochzeit."

 

Katarína, die Erzählerin, hat über die Arbeit an der Haube und all dem, was damit in Verbindung stand, zu sich selbst gefunden.

Und noch mehr: "Ohne das Sticken könnte ich nicht schreiben", sagt sie. Ohne die gemeinsame Arbeit hätte sie das Buch über Il´ka nicht geschrieben, hätte nicht das tiefe Verständnis für die so viel ältere Frau entwickelt.

Die im Wort angelegte Verbundenheit von Text und Textur oder Textil wird hier augenfällig. Ebenso die Verbindung von Gesagtem und Unsagbarem. Letzteres findet seinen Platz in der Haube.

 

"Il´ka werde ich Sie nennen. ... Aber es ist mein Buch und Sie werden nicht Sie sein. Sie werden nur so sein, wie ich sie sehen kann, wie ich Sie mir merken konnte. Bilder, die ich brauche. Il´kas Leben ist meine Geschichte, ich brauche sie, um die meine zusammenzustellen, neu, von Grund auf."

 

"Die Haube" ist keine frei schwebende Erzählung, die nur um die beiden Frauen kreist. Sie ist eingebettet in die Historie und das Land, in dem sie spielt.

Die Erinnerungen an Krieg und Nachkriegszeit, die Zeit unter dem Kommunismus mit Kollektivierung und dem System der Kontingente sind ebenso in den Roman eingearbeitet, wie das Thema, auf das man in dieser Region immer zu sprechen kommt: die Roma. Ihnen begegnet Katarína überall, im Bus, auf der Straße, im Laden. Es ist eine große Gruppe, bis heute sieht man sie nicht gerne und macht sie für manchen Missstand verantwortlich.

 

Die Erzählerin verzichtet weitgehend darauf, zu bewerten. Sie erzählt, was sie wahrnimmt, so, wie sie die Erzählungen Il´kas in sich aufnimmt. Dabei formt sie ein Bild, das eine reichhaltige, lebendige, d.h. sich stets verändernde Kultur spiegelt, wiedergegeben in einem feinen, autobiografisch gefärbten Text.

 

Abgerundet wird das Buch von einem Glossar und einem  Nachwort der Übersetzerin Eva Profousová.

In diesem beleuchtet sie die Geschichte der Slowakei, die vielen Leser:innen nur in Umrissen geläufig sein dürfte, und geht auch kurz auf ihre Übersetzung ein:

"Kucbelovás Erzählerin lotet in ihrem Buch die Grenzen des Dort-Möglichen aus (wie bunt dürfen die Farben sein, wie ungewöhnlich die Stoffe, wie forsch der Umgang mit den Roma) - die Übersetzung lotet die Grenzen der Vermittlung aus." Ihre Übertragung ins Deutsche ist trefflich gelungen!

 

 

 

 

 

 

 

 

Katarína Kucbelová: Die Haube

Aus dem Slowakischen übertragen von Eva Profousová

ink-press, tadoma 9, 2023, 240 Seiten

(Originalausgabe 2019)