Elsa Morante - Arturos Insel

 

 

 

Ein wichtiger Platz hier gebührt einem Roman, den ich vor über 20 Jahren zum ersten Mal gelesen habe und seitdem immer wieder in die Hand nehme.

Es ist ein italienischer Klassiker: „Arturos Insel“ von Elsa Morante aus dem Jahr 1957.

 

Die Geschichte spielt in den 1920er und 30er Jahren auf der Neapel vorgelagerten Insel Procida, bis heute eine Stiefschwester des weitaus berühmteren Ischia. Das Bemerkenswerteste auf diesem Eiland ist ein großes Kastell, das heute zu einer Ruine zerfallen ist, davor aber ein Gefängnis war (das Alcatraz Italiens), was es auch zu Arturos Zeiten noch ist.

 

Außer diesem Bauwerk gibt es einen Hafen, ein Dorf und eine bestechend schöne Natur, berühmt sind der Anbau von aromatischen Zitronen, welcher neben der Fischerei die Haupteinnahmequelle für die Inselbewohner bildet. Man kann sich vorstellen, dass nicht alle Menschen dort ihr Auskommen finden, die meisten Männer fahren zur See, sind oft monatelang unterwegs auf den Meeren der ganzen Welt.

 

So auch Arturos Vater: er ist hauptsächlich abwesend. Für Arturo ist er ein fast mystisches Wesen, das er über alles liebt und bewundert. Er malt sich aus,  wo der Vater gerade ein großes Abenteuer zu bestehen hat und er träumt davon, ihn eines Tages zu begleiten und damit endlich Teil seines Lebens zu werden.

Arturo verbringt viel Zeit am Hafen, jeden Abend geht er hin, um zu schauen, ob der Vater die Fähre verlässt, um für ein paar Tage oder auch Wochen bei ihm, im Palazzo der Gerace zu wohnen (was noch nicht heißt, dass der Vater dort auch mit ihm lebt).

 

Die Mutter Arturos starb kurz nach seiner Geburt, er wurde von einem Hirten aufgezogen, d.h. eher mit dem Nötigsten versorgt, der Junge blieb weitgehend sich selbst überlassen. Er streift über die Insel, fährt mit seinem Boot aufs Meer hinaus, beschäftigt sich mit seinem Hund und entdeckt die Welt der Menschen indirekt durch ein paar Abenteuerromane, die er gefunden hat.

 

Die Welt der Menschen bricht in Form einer Stiefmutter in sein Leben ein. Sie ist 16 als sie auf die Insel kommt, Arturo ist 14 und er ist mehr als verwirrt von ihrer Anwesenheit.

Er ist extrem eifersüchtig, schließlich nimmt sie ihm den Vater weg, er ist gleichzeitig fasziniert und irritiert von ihrer Fremdheit, er fühlt sich stark angezogen und ist verliebt in sie, hasst und verachtet aber auch ihre Eigenheiten, kurzum: er weiß weder aus noch ein.

Dieser Zustand erreicht dann seinen Höhepunkt, als Nunziata ein Kind bekommt.

 Arturo verhält sich ihr gegenüber wirklich grausam, der Vater hält es nie lange aus auf der kleinen Insel und so sind die 3 jungen Menschen bald auf sich alleine gestellt, worunter alle sehr leiden. Die Gastspiele des Vaters werden immer kürzer und als er auch noch einen Freund mit in den Palazzo bringt, bricht für Arturo der Rest seiner Welt in Trümmer. Dieser Stella genießt Privilegien, von denen Arturo nur träumen konnte.

 

Als Arturo nach dem Erlebnis mit Stella schon beschlossen hatte, die Insel zu verlassen, trifft er zufällig seinen ehemaligen „Pflegevater“ Silvestro wieder, der mittlerweile Soldat ist, der 2. Weltkrieg zeichnet sich ab. Davon – wie von allen aktuellen Geschehnissen – hat Arturo keine Ahnung, er lebt vollständig in seiner eigenen Welt. Die Armee erscheint ihm aber plötzlich wie die Lösung all seiner Probleme: er will sich freiwillig melden und vom ersten Tag an am Krieg teilnehmen.

 

Das Buch endet mit der Abfahrt Arturos und Silvestros hinüber nach Neapel, auf dem Weg in die Zukunft und in den Krieg.

 

Auf einer der letzten Seiten ist zu lesen, dass Arturo sich nach Silvestros Nachrichten vom Weltgeschehen vorkam, wie das Mädchen im Märchen, das hundert Jahre geschlafen hatte zwischen Uhus und Eulen, Kräutern und Spinnweben und nun erweckt wurde und die Welt zum ersten Mal sieht.

 

Für mich ist das eine perfekte Zusammenfassung der Geschichte: die abgeschiedene Insel, die Einsamkeit, die nur durch den lieben Hirten und den Hund gemildert wird, die aus der Ferne bewunderte Gestalt des Über-Vaters (der durch seine teilweise nordländische Herkunft auch noch dunkelblaue Augen hat wie der Prinz im Märchen), die ambivalente Beziehung zur Stiefmutter, die paradiesische (Unschuld der) Natur, der Palazzo, der genauso zerfallen ist wie der Familie Gerace, die schöne junge Witwe, die Arturo in die körperliche Liebe einführt, der kleine Bruder Carmine, der nach Arturos Verlassen der Insel von seiner Mutter nicht mehr mit eigenem Namen genannt wird, (sondern Arturo), d.h. ein Stück seiner Identität verbleibt auf diesem Vulkanfelsen im Meer und am Ende das Ausziehen des Helden in die Welt der Erwachsenen ist ein großes Märchen, ausgestattet mit allen Elementen, die ein solches ausmachen.

 

Wunderschön sind die Beschreibungen der Natur, Meer und Sterne ersetzen menschliche Gesellschaft, müssen sie ersetzen.

Arturo leidet in gewisser Weise nicht unter seiner Einsamkeit, denn er hat nie etwas anderes kennengelernt und doch verzehrt er sich vor Sehnsucht nach einem Gefährten (was auch mit Grund dafür ist, dass er am Ende zur Armee geht, nicht nur die willkommene Möglichkeit, die Insel zu verlassen). Insofern ist er der moderne Held par excellence, der sein Leben selbst erfinden muss, denn er wächst nicht in irgendeine Struktur hinein, es gibt keine solche in seinem Leben.

 

Es wurde mehrfach bemängelt, dass das Kreisen um sich selbst störend und den Leser langweilend sei, ich fand es gar nicht langweilig. Die ausgesetzte Lebenssituation Arturos ermöglicht es der Autorin ganz genau darzustellen, wie „rein“ (im Sinne von „unvermischt“ oder „ungefiltert“) die Gefühle des Heranwachsenden sind, wie er hin-und hergeworfen wird, wie er darum ringt, sich eine Weltanschauung zusammenzubauen, wie er darum kämpft, wahrgenommen zu werden.

 

Diesem inneren Drama beizuwohnen, ist für mich immer wieder großer Lesegenuss, denn Arturo entwickelt sich sehr wohl weiter, er ist nicht immer sympathisch, manchmal ist er richtig widerlich, aber sein Verhalten erklärt sich aus der Geschichte heraus und ist nachvollziehbar.

 

Die Natur ist nicht Trösterin des Helden, auch nicht Spiegel seiner Seele, sie ist einfach nur Natur, schön, aber gleichgültig, und dies gibt dem Roman Tiefe und verhindert, dass er ins Sentimentale abrutscht.

 

 

 

 

 

 

Elsa Morante: Arturos Insel

Aus dem Italienischen von Susanne Hurni-Maehler

Wagenbach Verlag, 2009, 432 Seiten

(Originalausgabe 1957)